8 Accessibility Mythen

Das Thema digitale Barrierefreiheit wurde und wird in weiten Teilen von gesetzlichen Forderungen getrieben. In der Regel auf der Basis von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetzen. Das galt und gilt in Deutschland für die BITV (Umsetzung des BGG) und auf europäischer Ebene für die EU-Richtlinie 2102 (Umsetzung der UN Behindertenrechtskonventionen). Der Antrieb zur Herstellung digitaler Barrierefreiheit rührt also nicht von einem tiefgreifenden Verständnis oder dem absoluten Willen, das Maximale zu erreichen. Der Antrieb zur Herstellung digitaler Barrierefreiheit ist: „Wir müssen die gesetzlichen Vorgaben – BITV, BayBITV, BbgBITV, HmbBITVO, BITVNRW, BITVRP, ThürBarrWebG und wie sie alle heißen – erfüllen“. Vielleicht ist das auch der Grund, warum es noch sehr viel Unwissenheit in diesem Bereich gibt. Das lässt natürlich viel Raum für hartnäckige Mythen, von denen ich nachfolgend einige aufklären möchte.

1. Digitale Barrierefreiheit stört mein Design

Gutes und schlechtes Design findet man überall. Vor vielen, vielen Jahren gab es tatsächlich technische Beschränkungen, die es fast unmöglich machten, anspruchsvolle Interfaces und Designs barrierefrei umzusetzen. Aber das ist wirklich Vergangenheit. Heute gibt es genau genommen nur noch Einschränkungen im Bereich der Farbkontraste. Und selbst die könnte man mit einem Kontrast-Umschalter noch umgehen. Und auch das Zwei-Sinne-Prinzip beeinflusst Design nicht negativ, wenn man die Funktion nicht der Form opfert. Es gibt so viele Designkonzepte, die digitale Barrierefreiheit positiv beeinflussen können. Von „Form follows function“ über das „KISS-Prinzip“ (Keep It Simple and Stupid) bis hin zum Universal Design Ansatz. Das gilt übrigens nicht nur für Websites oder Apps, sondern auch für barrierefreie PDF-Dokumente. Die meiste Magie der Barrierefreiheit findet unter der Haube statt und ist unsichtbar – es sei denn Sie sind darauf angewiesen.

2. Barrierefreies Internet ist typisch deutsch

Die Forderung nach Teilhabe und Barrierefreiheit ist kein deutsches Phänomen. Alle europäischen Mitgliedstaaten müssen diese EU-Richtlinie 2102 seit Ende 2018 in nationales Recht umsetzen – in Deutschland ist dies mit der BITV 2.0 (2019) geschehen. Und seit März 2019 gilt in Europa auch für die Privatwirtschaft der European Accessibility Act – kurz EAA. International agierende Firmen sollten zudem berücksichtigen, dass die Gesetzgebung außerhalb der EU sogar noch deutlich strenger ist. Gerade in den USA führt dies regelmäßig zu juristischen Klagen. Stichwort Americans with Disabilities Act (ADA), Canadians with Disabilities Act (CDA) oder auch Australian Disability Discrimination Act.

3. Digitale Barrierefreiheit kostet nichts

Auch das ist falsch. Barrierefreiheit ist nicht kostenneutral zu bekommen. Gründe für die Kosten sind vielfältig. Auftraggeber und Auftragnehmer müssen zum Beispiel Know-how erwerben. Das bedeutet, Mitarbeiter müssen geschult werden. Auch in der Online-Redaktion fällt Zusatzaufwand an. Zum Beispiel, um PDF-Dokumente barrierefrei zu machen, oder um Untertitel für Videos zu erstellen, oder um für Bilder Alternativtexte zu verfassen. Das kostet Zeit und Geld. Und auch in der Entwicklung und Programmierung fallen Zusatzkosten an, die nur der Barrierefreiheit geschuldet sind. Für das beliebte CMS WordPress beispielsweise kann man zwar mit kostenlosen (oder wenige Dollar günstigen) Themes und Plugins relativ schnell eine kleine Website aufbauen. Aber ist die Seite dann barrierefrei? Selbst ein Experte müsste sich den gesamten Output des Themes und aller Plugins ansehen und vollständig auf Barrierefreiheit testen – und dann individuelle Anpassungen vornehmen, um die Mindestanforderungen an Barrierefreiheit zu erreichen (auch wenn diese Vorgehensweise eher unrealistisch ist). Wie man es dreht und wendet, für die Einhaltung der technischen Vorgaben aus EN 301549 und WCAG muss man einen erheblichen Aufwand betreiben. Und wenn Auftraggeber zur Kontrolle der Barrierefreiheit einen externen Test beauftragen entstehen ebenfalls Kosten. Und last but not least fordern die Bundes-BITV und auch einige Landesverordnungen (z. B. auch die BITV-NRW) für zentrale Seiten Gebärdensprachvideos und Inhalte in Leichter Sprache – auch das ist ein Zusatzaufwand. Digitale Barrierefreiheit kostet Geld – und zwar nicht wenig. Das muss allen Beteiligten einfach klar sein.

4. Barrierearm ist auch okay

Sie glauben nicht, wie oft wir in den letzten Jahren nach barrierearmen Internetauftritten oder sogar barrierearmen PDF gefragt worden sind (was wir stets ablehnen). Erst kürzlich kam eine Anfrage mit der Bitte Alternativtexte in der Kalkulation für barrierearme PDF doch weg zu lassen. Das geht natürlich nicht. Der Begriff barrierearm hat irgendwann mal den Weg in unser Vokabular gefunden, weil einige Leute den Begriff Barrierefreiheit schwierig finden – hauptsächlich, weil Barrierefreiheit tatsächlich de facto nie zu 100 Prozent zu erreichen ist. Insofern ist es auch sinnvoller von BITV konform oder von EN 301549 konform zu sprechen. Damit ist nämlich auch die Mindestanforderung definiert. Genaugenommen bedeutet BITV konform eigentlich auch nur barrierearm, aber wer von barrierearm spricht, meint genau das in der Regel nicht. Wer Barrierearmut anpeilt, meint immer Lösungen, die unterhalb der gesetzlichen Mindestanforderung für Barrierefreiheit liegen, in der Regel in der Hoffnung Geld zu sparen. Natürlich kann es auch mal vorkommen, dass jemand ohne gesetzliche Verpflichtung den Einstieg in das Thema Barrierefreiheit sucht. Aber auch dann sollte man nicht von barrierearm sprechen, sondern beispielsweise auf niedrigere Anforderungen der WCAG A (anstelle von WCAG AA) zielen.

5. Barrierefreiheit – das machen die Programmierer

Dass Programmierer oder Webentwickler für die Barrierefreiheit alleine verantwortlich sind ist ebenfalls ein hartnäckiger Mythos. Webentwickler arbeiten in einem komplexen Umfeld mit Webtechnologien, wie HTML, CSS und JavaScript und entwickeln (verwenden) in der Regel generische Komponenten, die sich auf die allgemeine Barrierefreiheit positiv oder negativ auswirken. Wenn Webentwickler nicht gerade zufällig einen statischen Onepager mit allen Inhalten (inklusive der für Barrierefreiheit notwendigen Alternativen) bereitstellen und verantworten, haben Webentwickler und Programmierer tatsächlich nur auf den technischen Rahmen einen Einfluss. Fehler, die bereits im Design gemacht wurden, wie beispielsweise mangelnde Kontraste von Texten und funktionalen Grafiken, können Programmierer oder Webentwickler nicht mehr fixen. Und auch die Online-Redaktion hat eine große Verantwortung. Die Erstellung, Aufbereitung, Ordnung, Anreicherung und Verlinkung von allen Inhalten liegt komplett in ihrer Hand. Verständliche und gut strukturierte Texte, sinnvoll aufbereitete Datentabellen, hilfreiche Bilder und Grafiken (inklusive der Alternativtexte), Videos (inklusive Untertiteln und Abschriften) sowie barrierefreie Sonderformate wie PDF-Dateien werden vollständig von der Online-Redaktion verantwortet. Hier können massive Barrieren entstehen, für die Programmierer und Entwickler keine Schuld tragen. Ein Video-Interview ohne Untertitel ist für gehörlose Menschen vollkommen unzugänglich. Eine komplexe Schaugrafik ohne Alternativtext, zum Beispiel mit einem Verhaltenskodex zur Corona-Krise (leider oft gesehen), ist für blinde Menschen ebenfalls nicht zugänglich. Das sind schwerwiegende Barrieren, die in der Redaktion entstehen.

6. Automatische Tests auf Barrierefreiheit reichen aus

Auch hier haben Kunden von uns schon schlimme Überraschungen erleben müssen, weil sie sich bei der Abnahme von Internetauftritten (aber auch von angeblich barrierefreien PDF (Stichwort PAC-Test)) nur auf die Testergebnisse von automatisierten Evaluationswerkzeugen verlassen haben. Automatische Tests sind vor allem für Experten hilfreich, da sie den Zeit- und Arbeitsaufwand für Tests auf Barrierefreiheit etwas reduzieren. Vollautomatische Testwerkzeuge können aber das manuelle Testen nicht ersetzen. Ein automatisiertes Werkzeug kann zwar beispielsweise prüfen, ob ein Bild eine alternative Textbeschreibung hat, es kann aber nicht beurteilen, ob die Beschreibung auch genau oder aussagekräftig ist. Ein Foto von einer Katze mit dem Alternativtext „Maus“ würde jeden automatischen Test bestehen. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Lesen Sie dazu auch die Beiträge „Automatisierte Testtools vs. Handarbeit“ und den Vergleich „Automatisierung von Accessibility-Tests: Ersatz für Experten?“ hier auf Fronta11y. Ein unabhängiger Vergleich der bekanntesten Testtools (SortSite, Tenon, AChecker, WAVE, aXe, Siteimprove, ASLint, FAE, Asqatasun, HTML_CodeSniffer, Eiii, Google ADT und Nu Html Checker) durch die britische Regierung hat ebenfalls ein eindeutiges Ergebnis gebracht. Siehe nachfolgende unter Open-Government Lizenz stehende Original-Tabelle:

Automatische Testtools im Leistungsvergleich

Tool Barrieren gefunden Barrieren inklusive potenzieller Barrieren
SortSite 40% 40%
Tenon 34% 34%
AChecker 31% 35%
WAVE 30% 39%
aXe 29% 30%
Siteimprove 29% 36%
ASLint 28% 35%
FAE 28% 50%
Asqatasun 25% 47%
HTML_CodeSniffer 20% 34%
EIII 17% 17%
Google ADT 17% 17%
Nu Html Checker 13% 16%

Im Schnitt konnten die Testtools gerade mal 30 Prozent der vorhandenen Barrieren identifizieren. Wobei man fairerweise sagen muss, dass das konstruierte Testszenario der britischen Regierung auch viele erweiterte Prüfschritte enthält, die zwar sinnvoll sind, aber von den Mindestanforderungen der WCAG nicht abgedeckt werden (außer als Empfehlung). Da aber alle automatischen Tests auf den WCAG basieren, sind diese erweiterten Prüfschritte gar nicht Teil der Prüfroutine. Aber selbst, wenn man die erweiterten Prüfschritte rauslassen würde, würden die Prüftools prozentual nicht besser abschneiden. Automatische Tests auf Barrierefreiheit reichen niemals aus, noch nicht mal für einen Mindeststandard.

7. Das kontrolliert doch niemand

Bis Anfang 2020 gab es in Deutschland tatsächlich de facto keine Kontrolle, ob und wie die Vorgaben für digitale Barrierefreiheit bei Bund, Ländern und Kommunen umgesetzt wurde. Das hat die EU-Richtlinie 2102 geändert. Sie stellt an alle EU-Mitgliedsstaaten ganz konkrete Anforderungen an die „Überwachung und Berichterstattung“ sowie „die Verfügbarkeit eines angemessenen und wirksamen Durchsetzungsverfahrens“ – und zwar nicht nur einmalig, sondern in einem dreijährigen Turnus. Das Ziel ist klar: Durchsetzung und Überwachung eines europäischen Standards für Barrierefreiheit. In Deutschland gibt es zur Umsetzung dieses Durchsetzungsverfahrens mittlerweile Überwachungsstellen auf Bundes- und Landesebene. Für Bundesbehörden ist sie unter dem Dach der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See bei der Bundesfachstelle Barrierefreiheit angesiedelt. Offiziell kommt sie seit Anfang 2020 dort ihrer Überwachungsfunktion nach. Die EU-Richtlinie 2102 fordert aber nicht nur von den EU-Mitgliedsstaaten ein einheitliches Verfahren für Monitoring und Berichterstattung, sondern auch eine entsprechende Beteiligung der Anbieter von Websites und mobilen Anwendungen selbst. Konkret geht es um die sogenannte „Erklärung zur Barrierefreiheit“ über deren Inhalt und Form mit dem Durchführungsbeschluss (EU) 2018/1523 ebenfalls konkrete Detailregelungen getroffen wurden. Es wird also kontrolliert – und zwar systematisch. Zudem sollen Bürgerinnen und Bürger durch einen ebenfalls obligatorischen Feedback-Mechanismus dazu animiert werden, ggf. vorhandene Barrieren an den Seitenbetreiber zu melden, damit dieser diese beheben kann.

8. BITV-Konform mit 90 Punkten

Seit Mitte 2019 hat Deutschland die EU-Richtlinie 2102 in nationales Recht umgesetzt. Im Rahmen der EU-Harmonisierung von Barrierefreiheitsstandards referenziert die BITV „nur noch“ gültige EU-Standards und EU-Normen. In Deutschland haben wir uns über viele Jahre daran gewöhnt, gute Zugänglichkeit nach einem bestimmten Punkteverfahren zu messen und anzustreben. Gute Zugänglichkeit wurde beim relativ bekannten BIK-Test bereits ab 90 Punkten attestiert – und zwar noch bis Anfang 2019. Sehr gute Zugänglichkeit bekam man ab 95 Punkten bestätigt. Ein solches Verfahren erlauben die WCAG (Stand 2020) nicht mehr. Im Gegenteil, WCAG-Konformität ist nur möglich, wenn alle Kriterien und Prüfschritte erfüllt werden. Seit der neuen BITV 2.0 (2019) wurde daher auch das BITV-Testverfahren von BIK dahingehend angepasst. Das Punkteverfahren gibt es nicht mehr. Und auch die Bewertung an sich wurde verschärft. Alle Prüfschritte, die schlechter als „eher erfüllt“ bewertet werden, führen automatisch zur Diagnose „nicht BITV-konform“. In Deutschland hat man sich zudem daran gewöhnt, dass Barrierefreiheit für ganze Websites oder Webanwendungen proklamiert wird – auch wenn Tests nur einen Ausschnitt abbilden. Auch das verbieten die WCAG, wo Testergebnisse immer auf Einzelseiten bezogen sind. Zudem geben die WCAG eigentlich genau vor, wie eine Konformitätserklärung aussehen soll. In Deutschland spielt dieser Unterschied auch heute noch keine große Rolle. Unternehmen, die international tätig sind und entsprechende Standards (zum Beispiel Section 508) berücksichtigen müssen, sollten diesen Unterschied aber kennen. BITV-Konform mit 90-100 Punkten gibt es nicht mehr. Basta.