Nach der EU-Richtlinie 2016/2102, welche öffentliche Stellen zu mehr digitaler Barrierefreiheit verpflichtet, ist nun im März dieses Jahres der European Accessibility Act (EAA) verabschiedet worden. Diese Richtlinie verpflichtet alle Wirtschaftsakteure Europas zu mehr Barrierefreiheit bei Produkten und Dienstleistungen. Ziel der neuen Regelung ist eine Harmonisierung der Vorschriften zur Barrierefreiheit in den EU-Ländern, um einen besseren Binnenmarkt zu ermöglichen.
Auswirkungen
Der nutzerzentrierte Ansatz ist keine neue Vorgehensweise bei der Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen – und doch wird die Sicht beeinträchtigter Nutzer dabei nur selten eingenommen.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie blinde Menschen am Automaten Geld abheben? Wie gehörlose Menschen den Notruf wählen oder wie ein in seiner geistigen Entwicklung geschädigter junger Mensch auf die Verlegung einer Bushaltestelle reagiert?
Der European Accessibility Act nimmt diese Fragen auf und soll die Teilhabe beeinträchtigter Menschen weiter stärken. Und doch – vielen Organisationen, Vereinen und Verbänden gehen die Regelungen des EAA nicht weit genug. Auch aus meiner Sicht deckt diese Richtlinie nicht alle Lebensbereiche ab und ist nicht dazu geeignet, die Inklusion beeinträchtigter Menschen vollständig zu regeln. Ich möchte jedoch die Frage aufwerfen, inwieweit dies die Gesetzgebung jemals vollständig leisten kann, wenn Menschen mit Beeinträchtigungen in den Köpfen unserer Gesellschaft so wenig Platz einnehmen. Und damit meine ich alle Köpfe, nicht nur der Menschen, die an der Gesetzgebung in Europa beteiligt sind.
Der EAA ist aus meiner Sicht ein wichtiger Meilenstein – keine endgültige Lösung für die Inklusion in Europa. Und er wird neben den Erleichterungen für beeinträchtigte Menschen auch dazu beitragen, dass die unterschiedlichsten Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen in unserer heutigen Welt ein wenig mehr aus dem nutzerzentrierten Ansatz heraus wahrgenommen werden. Zumindest Projektverantwortliche, Designer und Entwickler werden diesen gedanklichen Umschwung leisten müssen, um Inclusive Design in ihre Projekte einfließen zu lassen.
Zeitplan
Der Zeitplan des EAA ist nicht so eng gefasst wie bei der EU-Richtlinie 2016/2102 für die Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit für öffentliche Stellen. So gibt die EU ihren Mitgliedstaaten nun 3 statt 2 Jahre Zeit, um die Richtlinie in die jeweiligen Landesgesetze zu überführen. Weitere 3 Jahre später, also 2025, sollen die Forderungen des EAA aber bereits umgesetzt sein.
Wirtschaftsakteure – wie Hersteller von Produkten oder Anbieter von Dienstleistungen – sollten bereits jetzt reagieren, denn die Entwicklungszyklen umfassen häufig mehr als 3 bis 6 Jahre. Sind endlich die deutschen gesetzlichen Maßgaben gegeben, ist oft eine Implementierung der Anforderungen in laufende Projekte nur noch schwer möglich. Eine besondere Herausforderung für Projektverantwortliche, jetzt schon, im noch nicht klar definierten Gesetzesraum zu agieren.
In diesem Artikel sollen deshalb zumindest einige der drängendsten Fragen beantwortet werden, die schon jetzt Handlungsbedarfe aufdecken sollen.
Wer ist verpflichtet?
Der EAA verpflichtet grundsätzlich alle Wirtschaftsakteure der Europäischen Union: Einführer, Händler und Hersteller von Produkten sowie Dienstleister.
Ausgenommen sind nur Kleinstunternehmen, also Unternehmen, das weniger als zehn Personen beschäftigen und deren Jahresumsatz und / oder eine Jahresbilanz von 2 Millionen Euro nicht überschreiten. In diesem Sinne bricht der EAA sehr wohl eine Lanze. Barrierefreiheit wird so zum Thema für die meisten Unternehmen in Europa.
Barrierefreiheit wird also endlich zum allgemeinen Qualitätsmerkmal und ist keine besondere Anforderung mehr.
Welche Produkte und Dienstleistungen sind betroffen?
Der wunde Punkt des European Accessibility Acts: Der EAA gilt nur für die nachfolgend aufgeführten Produkte und Dienstleistungen. Betreffen diese zwar viele Bereiche des alltäglichen Lebens, lassen die bisherigen Regelungen aus meiner Sicht Spielraum für viele weitere Angebote in der europäischen Wirtschaft.
Die folgenden Aussagen sind der im März verabschiedeten Fassung des EAA entnommen.
Die Barrierefreiheitsanforderungen, die für Produkte und Dienstleistungen, die im Europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation definiert sind, bleiben von den Bestimmungen unberührt.
- Produkte
- Hardware und Betriebssysteme für Universalrechner
- Verbraucherendgeräte für elektronische Kommunikationsdienste
- Verbraucherendgeräte für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten
- E-Book-Lesegeräte
- Selbstbedienungsterminals
- Geldautomaten;
- Zahlungsterminals;
- Fahrausweisautomaten;
- Check-in-Automaten zum Einchecken von Fluggästen für Personenbeförderungsdienste;
- interaktive Selbstbedienungsterminals zur Bereitstellung von Informationen
- Dienstleistungen
- elektronische Kommunikationsdienste
- Dienstleistungen für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten
- E-Books und hierfür bestimmte Software
- elektronischer Handel (alle Dienstleistungen, die auf den Abschluss eines Verbrauchervertrages erbracht werden)
- Bankdienstleistungen für Verbraucher (Bank- und Finanzdienstleistungen für Verbraucher wie bspw. auch Zahlungsdienste und E-Geld)
- interaktive Selbstbedienungsterminals
- folgende Elemente von Personenbeförderungsdiensten im Luft-, Bus-, Schienen- und Schiffsverkehr:
- Websites
- auf Mobilgeräten angebotene Dienstleistungen, einschließlich Apps;
- elektronische Tickets und elektronische Ticketdienste;
- die Bereitstellung von Informationen in Bezug auf den Beförderungsdienst
Welche Herausforderungen kommen auf die Wirtschaftsakteure zu?
Maßgaben für Produkte
- Der Hersteller gewährleistet die Barrierefreiheit seiner Produkte.
- Der Hersteller erstellt die technische Dokumentation zum Produkt barrierefrei.
- Der Hersteller führt ein Konformitätsbewertungsverfahren durch, oder lässt es durchführen.
- Wurde die Konformität eines Produkts mit den geltenden Barrierefreiheitsanforderungen im Rahmen dieses Verfahrens nachgewiesen, stellen die Hersteller eine EU-Konformitätserklärung aus und bringen das CE-Zeichen an.
- Der Hersteller bewahrt die technischen Dokumentation und die EU-Konformitätserklärung 5 Jahre lang auf.
- Die Einführer bringen nur konforme Produkte in Verkehr.
- Die Händler prüfen, dass Hersteller und Einführer die Anforderungen erfüllt haben.
Maßgaben für Dienstleistungen
- Die Dienstleistungserbringer gewährleisten die Barrierefreiheit ihrer Dienstleistungen.
- Die Dienstleister stellen Informationen zur Barrierefreiheit ihrer Dienstleistungen bereit.
- Die Dienstleister bewahren diese Informationen solange auf, wie die Dienstleistung angeboten wird.
Welche funktionalen, technischen und formalen Anforderungen gelten?
Nachweis der Konformität von Produkten gemäß EAA
- Für jedes Produkt muss eine EU-Konformitätserklärung und eine CE-Kennzeichnung vorliegen.
- Aus der EU-Konformitätserklärung geht hervor, dass die relevanten Barrierefreiheitsanforderungen nachweislich erfüllt sind.
- Mit der Ausstellung der EU-Konformitätserklärung übernimmt der Hersteller die volle Verantwortung dafür, dass das Produkt die in dieser Richtlinie festgelegten Anforderungen erfüllt.
- Die CE-Kennzeichnung kann nur bei Konformität erfolgen.
Auswirkungen bei Nicht-Konformität von Produkten gemäß EAA
- Sind ein Produkt oder die zugehörige Dokumentation nicht konform und wird nicht innerhalb einer angemessenen Frist nachgebessert, wird das Produkt nur noch eingeschränkt bereitgestellt oder vom nationalen und EU-Markt genommen.
- Erhebt weder ein Mitgliedstaat noch die Kommission innerhalb von drei Monaten einen Einwand, gilt diese Maßnahme als gerechtfertigt.
- Ein Produkt kann auch dann vom Markt genommen werden, wenn folgende formalen Gründe nicht erfüllt sind:
- Die CE-Kennzeichnung wurde angebracht, obwohl die Anforderungen an die Barrierefreiheit nicht gegeben sind.
- Die CE-Kennzeichnung wurde nicht angebracht.
- Die EU-Konformitätserklärung wurde nicht ausgestellt.
- Die EU-Konformitätserklärung wurde nicht korrekt ausgestellt.
- Die technische Dokumentation ist nicht verfügbar oder unvollständig.
Nachweis der Konformität für Dienstleistungen gemäß EAA
- Die Mitgliedstaaten entwickeln, implementieren und aktualisieren regelmäßig geeignete Verfahren, um:
- Die Barrierefreiheitsanforderungen an Dienstleistungen zu kontrollieren.
- Beschwerden nachzugehen.
- Korrekturmaßnahmen zu kontrollieren.
- Die Mitgliedstaaten benennen die zur Überwachung zuständigen Behörden.
- Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Öffentlichkeit über die Existenz, die Zuständigkeiten und die Identität der genannten Behörden informiert ist.
Anforderungen an die Barrierefreiheit
Allgemein definiert der EAA folgende Anforderungen:
- Produkte sind so zu gestalten und herzustellen, dass eine möglichst starke voraussichtliche Nutzung durch Menschen mit Behinderungen erreicht wird.
- Sie sind mit barrierefrei zugänglichen Angaben zu ihrer Funktionsweise und ihren Barrierefreiheitsfunktionen auszustatten.
- Das Produkt – einschließlich seiner Benutzerschnittstelle – muss in seinen Bestandteilen und Funktionen Merkmale aufweisen, die es für Menschen mit Behinderungen möglich machen, auf das Produkt zuzugreifen, es wahrzunehmen, zu bedienen, zu verstehen und zu regeln.
- Zusätzlich sind die Verpackung und die Anleitungen der Produkte im Hinblick auf eine möglichst starke voraussichtliche Nutzung durch Menschen mit Behinderungen so zugänglich zu machen, dass sie barrierefrei sind.
- Damit die Dienstleistungen so erbracht werden, dass Menschen mit Behinderungen sie voraussichtlich maximal nutzen:
- muss die Barrierefreiheit, der zur Erbringung der Dienstleistung verwendeten Produkte gewährleistet sein,
- müssen Informationen über die Funktionsweise der Dienstleistung barrierefrei sein,
- müssen Websites einschließlich der zugehörigen Online-Anwendungen und auf Mobilgeräten angebotener Dienstleistungen, einschließlich mobiler Apps, auf kohärente und angemessene Weise wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gemacht werden.
Der EAA verweist im Gegensatz zur EU-Richtlinie 2016/2102 nicht auf bestehende Regelwerke oder Richtlinien. Er definiert in der Anlage 1 stattdessen allgemeine und spezifische Barrierefreiheitsanforderungen. Im Anhang 1a werden diese Anforderungen dann mit indikativen Beispielen untermauert.
Ausblick
Europa hat mit dieser Harmonisierungsrichtlinie einen weiteren Meilenstein zur Inklusion beeinträchtigter Menschen in die Europäische Menschengemeinschaft geschaffen. Die Umsetzung in deutsches Recht wird die Bundesregierung in den nächsten Jahren beschäftigen.
Für mich gibt es drei Indikatoren, die alle Unternehmen überzeugen sollten, spätestens jetzt Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, die für alle Menschen der Zielgruppen benutzerfreundlich und barrierefrei nutzbar sind: die soziale Verantwortung, der wirtschaftliche Impact und die gesetzlichen Maßgaben.
Accessibility and Usability Expert, T-Systems MMS GmbH
Leiterin des AK Barrierefreiheit der German UPA
Anne-Marie Nebe studierte Grafik-Design am Bauhaus Dessau. Als Freiberufler und Honorardozent arbeitete sie vor allem in den Themenbereichen Designkonzeption, Typografie und Cross-Media-Entwicklung. Als Accessibility and Usability Expert der T-Systems MMS und als Leiterin des Arbeitskreises Barrierefreiheit der German UPA zeichnet sie sich verantwortlich für Inklusion durch barrierefreie IT.