Digitale Barrierefreiheit zur Reduktion der psychischen Belastung am Arbeitsplatz

New Work (neues Arbeiten) ist in aller Munde. Dies zeigt die steigende Anzahl an Arbeitsplätzen, an denen digitale Hardware-Interfaces, komplexe Softwaredialoge und mobile Applikationen eingesetzt werden. Der digitale Arbeitsplatz bringt für den Arbeitnehmer viele Vorteile: Ortsungebundenheit, Unabhängigkeit von bestimmten technischen Umgebungen oder flexible Arbeitszeitverteilungen.

Immer mehr Vorgänge werden digitalisiert – so zum Beispiel funktionale Arbeitsaufgaben, viele Aufgaben der Arbeitsorganisation und auch die Mitarbeiterqualifikation.  Von der Fachanwendung zum Urlaubsantrag, über Signierketten bis hin zum digitalen Pausenklatsch mit den Kollegen – alles ist und wird digital. Nicht zuletzt das Home-Office während der Corona-Pandemie hat uns gezeigt, was alles in einen autarken, digitalen Arbeitsalltag integriert werden kann.

Der digitale Arbeitsplatz birgt jedoch auch viele Risiken. Aus der Konfrontation mit neuen Aufgaben, der gleichzeitigen Bearbeitung von verschiedenartigen Arbeitsaufgaben oder dem steigen Wandel von Arbeitsumgebungen steigt der psychische Belastungsdruck der Arbeitnehmer. Dazu ein paar Zahlen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (aus den Veröffentlichungen: „Arbeitswelt im Wandel: Zahlen – Daten – Fakten“ und „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2018“):

  • 36,6 % der Beschäftigten geben an unter starkem Termin- und Leistungsdruck zu stehen.
  • 15,8 % der Arbeitsunfähigkeitstage gehen auf psychische und Verhaltensstörungen zurück, Tendenz steigend.
  • Die Kosten der Arbeitsunfähigkeit durch psychische und Verhaltensstörungen betragen einen Ausfall an Bruttowertschöpfung von 22,8 Milliarden Euro. Sie stehen damit auf Platz 2 der Kostenursachen.
  • 2018 waren 42,7 % aller Rentenzugänge wegen Erwerbsunfähigkeit auf psychische und Verhaltensstörungen zurückzuführen.

Arbeiten 4.0 bringt also für Unternehmen und öffentliche Stellen einen Schatz an Möglichkeiten und einen Pool von Herausforderungen mit sich.

Gesetzliche Verankerung findet die Aufforderung zur Reduktion der psychischen Belastung am digitalen Arbeitsplatz im Arbeitsschutzgesetz und der daraus hervorgehenden Arbeitsstättenverordnung. Im Anhang zu § 3 Absatz 1 Kapitel 6.5 finden Sie die Anforderungen an die Benutzerfreundlichkeit von Bildschirmarbeitsplätzen.

Welche psychischen Belastungen entstehen am digitalen Arbeitsplatz?

Wenn Arbeitnehmer von Ihrer Nutzungssituation am Arbeitsplatz berichten, dann werden folgende Faktoren häufig genannt:

  • Starker Termin- und Leistungsdruck
  • Sehr schnell arbeiten
  • Betreuung verschiedenartiger Arbeiten gleichzeitig
  • Häufige Arbeitsunterbrechungen oder -störungen
  • Konfrontation mit nicht erlernten oder neuen Aufgaben
  • Ständiges Arbeiten an der Grenze der Leistungsfähigkeit
  • Hoher Verantwortungsdruck (selbst kleine Bedienfehler können eine große finanzielle Auswirkung besitzen)
  • Stetiger Wandel (z. B. neue digitale Anwendungen)

Die Folge dieser Faktoren ist häufig Stress. Wirkt dieser dauerhaft, folgen psychische Störungen oder Verhaltensstörungen, die der Arbeitnehmer selbst nicht mehr bewältigen kann. Krankheitsausfälle und Erwerbsunfähigkeit drohen.

Längst sind psychisch bedingte Krankheiten noch nicht von Vorurteilen befreit. Eine depressive Stimmung und ein Schnupfen werden von Kollegen und Vorgesetzten mit sehr unterschiedlichen Gefühlen wahrgenommen. Dabei sind es beides Krankheiten, die jeden von uns treffen können, jederzeit. Diese unterschiedlichen Bewertungsschema führen dazu, dass psychische Störungen vom Arbeitnehmer selbst heruntergespielt und verheimlicht werden, oft so lange, bis es nicht mehr geht. Neben der Behebung der oben genannten Faktoren spielt also auch die Akzeptanz und die Achtsamkeit unter Kollegen eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Verstärkung psychischer Belastungen und Störungen.

Wie verringert digitale Barrierefreiheit die psychische Belastung am Arbeitsplatz?

Barrierefreiheit wird oft nur im Zusammenhang mit Menschen mit Beeinträchtigungen gesehen. Werden diese bei der Ausführung von Aufgaben von einer digitalen Anwendung nicht behindert, spricht man von einer barrierefreien Gestaltung.

Die Nutzergruppe der Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung zeichnen sich beispielsweise durch folgende Eigenschaften aus:

  • Sie haben oft Schwierigkeiten beim Lesen, Erfassen und Verarbeiten von Textinhalten.
  • Als sehr störend empfinden sie Inkonsistenzen in Beschriftung, Dialogführung, Navigation, Gliederung, Informationsaufbereitung und Gestaltung.
  • Durch Konzentrationsschwächen sind Bedienfehler und Falscheingaben sehr häufig.
  • Sie vergessen oft kurzfristig selbst wichtige Informationen.
  • Fast alle Nutzer dieser Gruppe haben einen erhöhten Zeitbedarf bei der Erfüllung von Aufgaben.

Die genannten Eigenschaften dieser Nutzergruppe kann man aber auch bei vielen Menschen in besonderen Nutzungssituationen beobachten. Menschen in Stress-Situationen können Informationen oft nur verlangsamt aufnehmen oder verarbeiten, weil sie unter starkem Leistungsdruck stehen oder ständig in ihrer Arbeit unterbrochen werden. Überforderte Mitarbeiter begehen mehr Fehler, weil sie viele Aufgaben gleichzeitig in den unterschiedlichsten Anwendungen erledigen müssen.

Und seien wir ehrlich: beispielsweise eine konsistente Interaktionsführung und Informationsaufbereitung dient allen Nutzern – auch Nutzern ohne Anzeichen einer psychischen Belastung.

Welche Maßnahmen kann ich treffen, um barrierefreie digitale Anwendungen bereit zu stellen?

Unternehmensweite Maßnahmen

Ein guter digitaler Arbeitsplatz funktioniert nicht nur, er ermöglicht eine effiziente und zufriedenstellende Erledigung der Arbeitsaufgaben. Für Unternehmen und öffentliche Stellen bedeutet dies, bei der Ausgestaltung der Arbeitsplätze neben der Bereitstellung ergonomischer Büromöbel auch für die Bereitstellung ergonomischer und barrierefreier digitaler Arbeitsumgebungen zu sorgen. Diese Notwendigkeit ist jedoch noch nicht in allen Anforderungskatalogen oder Qualitätssicherungskonzepten von digitalen Anwendungen zu finden.

Eine Hilfestellung bietet hier die EU-Norm 17161. Sie trägt den Titel: Barrierefreiheit von Produkten, Waren und Dienstleistungen nach einem „Design für alle“-Ansatz – Erweiterung des Nutzerkreises.

Die Kernpunkte der Norm sind:

  • Die Fokussierung auf einen erweiterten Nutzerkreis
  • Die Schaffung eines allgemeingültigen prozessorientierten Ansatzes zur „Gestaltung für Alle“
  • Die Definition der Herstellerverpflichtung, sich darum zu bemühen, allen Nutzern zugängliche Produkte anzubieten
  • Die Aufstellung von Anforderungen, Aktivitäten und Vorgehensweisen für ein „Design for All“
  • Die Darstellung der Integrierbarkeit des Design for All in bestehende Projekt- und Managementprozesse (z.B. DIN ISO 9001 Qualitätssicherung durch Prozessoptimierung)

Dabei orientiert sich die EN 17161 am Prozess zur gebrauchstauglichen Gestaltung interaktiver Systeme (DIN EN 9241-210). Damit knüpft sie an bewährte Usability-Prozesse an und ermöglicht so die frühestmögliche Einbeziehung aller potenziellen Nutzer.

Maßnahmen beim Design und der Entwicklung von digitalen Anwendungen

Die folgenden Tipps klingen oft generisch und selbstverständlich. Werden Sie jedoch von Informationsarchitekten, Designern und Entwicklern berücksichtigt, ergeben Sie konkrete, messbare Verbesserungen der digitalen Zugänglichkeit für psychisch belastete Nutzer.

Maßnahmen zur Verbesserung der Wahrnehmbarkeit

  • Versuchen Sie komplexe Dialoge zu vermeiden. Reduzieren Sie Interaktionselemente und Inhaltsmodule so weit es geht. Die meisten Nutzer geben bei Befragungen an, von Umfang und Darstellungsvarianten digitaler Anwendungen (vor allem auf Start- oder Überblicksseiten) überfordert zu sein.
  • Geben Sie Abbildungen und Medieninhalten aussagekräftige Textalternativen. Dann können Nutzer die ablenkenden Bildinhalte bei Bedarf ausschalten und es gehen trotzdem keine inhaltlich relevanten Informationen verloren.
  • Ermöglichen Sie den Nutzern, ihre Oberfläche an die eigenen Wahrnehmungsbedürfnisse anzupassen. Dabei haben Nutzer oft einen hohen Anpassungsbedarf bei Farben und Kontrasten sowie von Schriften und Textdarstellungen.
  • Sorgen Sie dafür, dass Hintergrundgeräusche, Mikroanimationen oder andere inhaltlich nicht relevante Dialoginhalte vom Nutzer abgeschaltet werden können. Gerade Menschen mit Konzentrationsschwächen werden dadurch von ihrer Arbeitsaufgabe abgelenkt.

Maßnahmen zur Verbesserung der Bedienbarkeit

  • Gestalten Sie Ihre Anwendungen einfach navigierbar. Stellen Sie beispielsweise jeden Schritt eines Arbeitsprozesses in einem einzelnen Dialog dar. Oder teilen Sie lange Formulare in einzelne Formularschritte.
  • Bieten Sie bei längeren Arbeitsprozessen die Möglichkeit der Zwischenspeicherung an. Dies gibt den Nutzern Sicherheit und ermöglicht steuerbare Arbeitspausen.
  • Planen Sie für alle Nutzerinteraktionen genügend Zeit ein. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben oft eine verlangsamte Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung.
  • Erhöhen Sie die Navigierbarkeit durch konsistente Gestaltung. Benennen Sie beispielsweise Interaktionen mit gleicher Funktion immer gleich und stellen Sie Dialoge mit gleichen Informationen auch gleich dar.
  • Unterstützen Sie Ihre Nutzer bei der Orientierung durch einen gut sichtbaren Fokus und eine eindeutig identifizierbare Dialogposition. Kennzeichnen Sie dafür beispielsweise das gerade aktive Navigationselement, die aktive Registerkarte, bereits besuchte Links, etc.
  • Bieten Sie alternative Navigationsmöglichkeiten an, um einen individuellen Arbeitsablauf zu ermöglichen. Integrieren Sie dazu Breadcrumbs, Sitemaps oder intelligente Suchen.
  • Achten Sie darauf, dass die Dialogführung und die Nutzung interaktive Elemente erwartungskonform bedient werden können. Überfordern Sie Nutzer nicht durch neue UI-Elemente und ungewohnte Bedienweisen.

Maßnahmen zur Verbesserung der Verständlichkeit

  • Bereiten Sie Informationen leicht verständlich auf. Nutzen Sie dazu den Wortschatz und die Sprache Ihrer Nutzer. Vermeiden Sie unbekannte Abkürzungen oder Fremdworte. Formulieren Sie einfache Sätze mit jeweils nur einem Sachverhalt.
  • Stellen Sie Ihren Nutzern Hilfen zur Verfügung. Ob kontextsensitive Hinweise oder allgemeinverfügbare Bedienhilfen – helfen Sie Ihren Nutzern beim Erlernen der Anwendung.
  • Helfen Sie Ihren Nutzern bei der Vermeidung von Fehlern. Stellen Sie beispielsweise Eingabemuster oder Eingabevarianten bereit oder implementieren Sie Wertvalidierungen, um Eingabefehler direkt zu erkennen.
  • Unterstützen Sie Ihren Nutzer bei der Eingabefehlern. Achten Sie dabei auf eine gute Fehlerkennzeichnung und Benennung und geben sie eindeutige und aussagekräftige Hinweise zur Fehlerbehebung.

Für die genannten Maßnahmen erhebe ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, im Gegenteil, trotz ihrer Vielfältigkeit bilden sie nur einen Auszug an möglichen Mitteln zur Reduzierung der psychischen Belastung am Arbeitsplatz.

Welche Vorteile bringt die Barrierefreiheit von Anwendungen in Bezug auf die digitale Arbeitswelt?

Die oben genannten Risiken kann man mit dem Aufwand für die dargestellten Maßnahmen abwägen, um sein eigenes Geschäftsrisiko zu definieren. Die Chancen, die durch einen ergonomischen und barrierefreien digitalen Arbeitsplatz erwachsen, betreffen dabei viele Geschäftsbereiche:

  • Verbesserung der Mitarbeitsgesundheit
  • späterer Renteneinstieg und damit längere Verweilzeiten von gut ausgebildetem und qualifiziertem Fachpersonal
  • qualifizierte Mitarbeiter durch barrierefreie Weiterbildungsangebote
  • geringerer Schulungsaufwand bei der Einführung neuer Anwendungen
  • weniger Bedienfehler
  • geringere Supportkosten
  • zufriedenere Mitarbeiter

Wenn Sie die nächste Mitarbeiterbefragung durchführen, dann erweitern Sie Ihren Fragenkatalog doch mit der Frage: „Wie wohl fühlen Sie sich im Umgang mit den digitalen Anwendungen an ihrem Arbeitsplatz?“. Eine Frage, die sich beim Arbeiten 4.0 aufdrängt und doch selten formuliert wird.

Bitte

Gehen Sie bewusst und achtsam mit menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der Nutzung mit digitalen Anwendungen um. Sorgen Sie mit ergonomisch und barrierefrei gestalteten Anwendungen für einen produktiven und gesunden digitalen Arbeitsplatz.

Danke.