Produktiver werden dank Barrierefreiheit und digitale Teilhabe am Arbeitplatz

In 2022 habe ich meinen neuen Job bei Atos angefangen.
Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich Erfahrungen als UXlerin, Designerin oder Entwicklerin sammeln dürfen. Ich war immer im Digitalbereich unterwegs, in IT- oder Design-Abteilungen. Das, was ich kannte, waren menschliche digitale Bedürfnisse und Erlebnisse und ich hatte dabei nur an Arbeitsplatz-Bedürfnisse im Kontext von Backoffice Mitarbeitenden gedacht, wie bei Call Centers, aber immer nur an eine konkrete Lösung. Ich habe nur mit Support, Hardware oder Software zu tun gehabt, wenn ich etwas brauchte oder etwas nicht funktioniert hat. Ich muss sagen, meine EDV-Kollegen sind immer der Hammer gewesen!

Bei Atos bin ich aber nicht im Digitalbereich gelandet, sondern im digitalen Arbeitsplatz Bereich. Ich musste das erstmal verstehen, und es hat einige Zeit gedauert, bis ich wirklich kapiert habe, warum das globale Barrierefreiheitsteam an dieser Stelle sitzt. 

  • Wie barrierefrei ist Ihre interne IT Anwendungen und Prozessen?
  • Wie barrierefrei ist das Onboarding und die Geräteausstattung für Mitarbeitende im Home Office?
  • Wie barrierefrei ist der Beschaffungsprozess? 
  • Wie barrierefrei sind Ihre Schulungsplattformen und -inhalte? 
  • Wie und wann wird die Barrierefreiheit in der gesamten Mitarbeiterführung berücksichtigt?

Das sind Fragen, die ich mir noch nie wirklich gestellt hatte.

Jetzt rede ich nicht nur von User und Customer Experiences, ich lerne und verbessere Mitarbeitenden-Erlebnisse und passe Employee Journeys an, um sie nicht nur reibungslos, sondern auch barrierefrei, inklusiv und engagiert zu gestalten. Ich schaue weiter als nur auf eine einzelne App oder nur eine Lösung.

Inclusive & Accessible Employee Journeys.

Bei Atos verkaufen wir „Engaged Employee Experiences“.
Diese Erlebnisse können analysiert und zugänglich gemacht werden. Wir können die Teilhabe am Arbeitsplatz fördern. Jede Interaktion unter Menschen oder jede Interaktion zwischen Menschen und Maschinen kann so gestaltet werden, dass sie von vornherein inklusiv und barrierefrei ist.

Mitarbeitende Journey 1. Attraction 2. Recruitment 3. Onboarding 4. Development 5. Retention 6. Separation
Atos Inclusive Engaged Employee Journey

Ein Beispiel – Inclusive Employee Attraction – Inklusive Rekrutierung

Unternehmen organisieren Recruiting-Veranstaltungen an Universitäten. Und man muss sich al Firma richtig überlegen: wer möchte ich ausschliessen? 

  • Gibt es genug Pausen zwischen den tollen Präsentationen? 
  • Kann sich jemand, der oder die kognitiv überlastet ist, in einen ruhigen Raum zurückziehen und ausruhen? 
  • Bieten sie hybride Optionen für diejenigen an, die sich in Präsenz nicht wohlfühlen, aber trotzdem teilnehmen wollen, oder für diejenigen, die nicht zur Veranstaltung reisen können?
  • Wenn ja, bieten sie barrierefreie Hilfsmittel wie Live-Untertitelung, einfache Sprache oder Gebärdensprache an?
  • Sind die Stellenausschreibungen nicht nur technisch barrierefrei, sondern sind sie auch in inklusiver Sprache geschrieben? 
  • In welchen Foren schreibt das Unternehmen die offenen Stellen aus? 

Dies ist nur der erste Schritt von 6 in der Journey. 

Diese Journeys werden je nach den Bedürfnissen der jeweiligen Organisation, ihrer Mitarbeiter oder ihrer Kunden maßgeschneidert. 

An der Universität kann es eine Reise für Studierende und eine Reise für Mitarbeitende geben. Diese Reisen können je nach den Bedürfnissen des jeweiligen Bereichs und der jeweiligen Rolle angepasst werden, oder sie können allgemein sein.  

Die Mitarbeitenden-Journey ist auch eine Reise des Alterns. Wenn wir ja von Universitäten sprechen: man kann bei Studierenden auch an verschiedene Familien- oder Arbeitskonstellationen z.B. denken.

Diese Übung kann auch Teil einer Bewertung des Reifegrads der Barrierefreiheit in der Organisation sein, bei der auch andere Bereiche wie Beschaffung, Personal, IT und Ausbildung überprüft werden.

Barrierefreiheit, Produktivität oder beides?

In meiner beruflichen Laufbahn habe ich oft genug gehört, dass es in einem bestimmten Kontext keine Menschen mit Behinderungen gibt (keine Kund*innen, keine Nutzer*innen, keine Mitarbeiter*innen). 

90% der Behinderungen sind unsichtbar.

Die Zahlen sagen etwas anderes: statistisch gesehen haben etwa 15 bis 20 % der Bevölkerung (je nach Region) eine sichtbare oder unsichtbare Behinderung.

Dazu gehören auch Neurodiversität, chronische Erkrankungen und psychische Zustände wie Depression oder Angst, so dass die Zahlen noch höher sein könnten. Und dabei sind temporäre Behinderungen noch nicht einmal mitgezählt, und situationsbedingte schon gar nicht. 

Wenn ihr mich schon kennt, habt ihr sicher schon gehört, wie ich meinen Kunden in der Automobilbranche gern immer wieder erkläre, dass Blinde sehr wohl Auto fahren können: Eigentlich sind alle Autofahrenden blind, weil sie auf die Straße und nicht auf ihr Handy oder ihre Geräte schauen dürfen (situativ mehrfach Schwerbehindert). 

Wenn jemand also sagt, dass “wir keine behinderten Mitarbeitenden haben”, zeigt das entweder, dass in diesem Unternehmen Menschen mit Behinderungen arbeiten, die sich nicht trauen, dies ihren Kollegen und dem Unternehmen mitzuteilen, oder im schlimmsten Fall hat die Person Recht und kein einziger Mensch mit einer Behinderung möchte in diesem Unternehmen arbeiten. Auf diese Weise geht dem Unternehmen ein großer Pool an Talenten und Innovationspotenzial verloren. 

In beiden Fällen profitieren sowieso alle von der Barrierefreiheit, alle werden Produktiver dank Barrierefreiheit, egal ob mit oder ohne Behinderung. Um das zu beweisen, recherchieren wir jetzt Daten über Barrierefreiheitsfunktionen am Arbeitsplatz, und nicht nur über assistierende Technologien und Hilfsmittel für Behinderung. 

Gehört ihr zu einem Design- oder Entwicklungsteam, das den Dark Mode verwendet? Dann nutzt ihr eine Barrierefreiheitsfunktion, unabhängig davon, ob ihr eine Behinderung habt oder nicht, unabhängig davon, ob ihr eine Diagnose habt oder nicht, und unabhängig davon, ob ihr euch als behindert bezeichnet oder nicht. In dem Moment, in dem eure IT-Abteilung die Anwendungen nicht auf Barrierefreiheit prüft und eine schwarze Schrift erzwingt, werdet ihr nicht mehr arbeiten können, weil der Kontrast zwischen dem schwarzen Text und dem dunklen Hintergrund nicht ausreicht.

Nutzt ihr Mind maps? Untertiteln? …es gibt viele Beispiele!

Ein paar Werkzeuge die alle benutzen können

Ich möchte euch ein paar Barrierefreiheitsfunktionen vorstellen, die eure Produktivität steigern können und an die normalerweise niemand so denkt.

Biometrische Zugangssysteme

ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie, Brain Fog und chronische Erkrankungen können das Erinnern von Passwörtern und PINs zu einem Albtraum machen.

Die biometrische Erkennung wird derzeit als Authentifizierungsmethode eingesetzt, um herkömmliche Authentifizierungsmodalitäten wie PIN (Persönliche Identifikationsnummer) oder Passwörter zu ergänzen oder sogar zu ersetzen.

Biometrische Authentifizierungsmechanismen wie Gesichts-, Stimm- und Fingerabdruckerkennung können sowohl in mobilen Geräten als auch in Laptops verwendet werden. 

Windows Hello kann PIN, Gesichtserkennung oder Fingerabdruck verwenden. 

Macs können Touch ID verwenden. 

Chromebooks können so eingerichtet werden, dass sie sich mit dem Fingerabdruck oder mit der Nähe des eigenen Mobilgeräts entsperren lassen. Wie cool ist bitte das?

TTS – Sprachausgabe und Vorlesefunktion

Sprachausagabe oder die Vorlesefunktion (Text To Speech-TTS) kann verwendet werden, um digitale Informationen zu konsumieren, wie es Bildschirmleser tun. Das kann eine blinde Person sein, eine Person mit Migräne oder neurodiverse Mitarbeitenden, wie  z.B. mit Legasthenie oder Autist*innen.

Oder die Vorlesefunktion, die ein Elternteil, das ein Baby im Arm hält, nutzen würde, oder eine Person, die eine Mahlzeit zubereitet und schmutzige Hände hat, oder ein Fremdsprachler*in, der versucht herauszufinden, wie man ein Wort oder einen Satz ausspricht, indem er die Auswahl- und Sprechfunktion nutzt.

Auf dem iPhone kann man Webseiten oder Bücher mit Voice Over verwenden. Man kann die Stimme, die Geschwindigkeit und die Ausführlichkeit in den Bedienungshilfen einstellen. Damit dieser Trick funktioniert, muss man Voice Over starten und die Geste zum automatischen Durchblättern der Seiten ausführen (in iOS mit 2 Fingern nach unten streichen). Das war’s.

Die Funktion kann auch verwendet werden, um Informationen auszutauschen.
Wir sollten uns nicht um die Gründe kümmern: es kann ein Kollege sein, der gestern Abend auf einem Konzert so richtig gefeiert hat und für den Tag keine Stimme mehr übrig hat. Oder vielleicht ist sein kleines Baby in seinen Armen endlich eingeschlafen oder er ist einfach nur aufgeregt wegen einer Präsentation auf Englisch und zieht es vor, dass der Computer seine Gedanken laut vorliest, um zu vermeiden, dass er einen Text falsch liest oder falsch ausspricht und damit einen internationalen Konflikt verursacht.

Autokorrektur, Vervollständigung, Rechtschreibprüfung und Vorschläge

Für diejenigen, die T2S zum Austausch von Informationen nutzen, sind Auto-Korrektur, Vervollständigung, kontextbezogene Rechtschreibprüfung und Vorschläge (so etwas wie eine Wort-Prognose) eine große Hilfe, da diese Kollegen schneller und zuverlässiger tippen können.

Wenn sich die Beeinträchtigung des Kollegen auch auf die Bewegungsfähigkeit auswirkt, kommt die Unterstützte Kommunikation (UK) ins Spiel. Unterstützte Kommunikation kann aus Hilfsmitteln, Systemen, Geräten oder Strategien bestehen, deren Ziel es ist, die natürliche Sprache zu unterstützen oder zu ersetzen. Aus der Perspektive des digitalen Arbeitsplatzes handelt es sich bei der Unterstützten Kommunikation um Geräte oder Software mit einer Benutzeroberfläche, die durch Berührung oder Augensteuerung aktiviert werden kann, in der Regel Piktogramme, die so programmiert sind, dass sie eine bestimmte Sprache erzeugen. Es geht um schnell und ohne viel Aufwand Sätze bauen.

STT – Spracherkennung und Spracheingabe

Spracherkennung kann verwendet werden, um Informationen wie Live-Untertitel zu konsumieren. Gehörlose und schwerhörige Menschen sowie Nicht-Muttersprachler und Sprachlernende profitieren sehr von dieser Funktion. 

Spracherkennung kann auch durch Spracheingabe zur Erstellung von Informationen verwendet werden, z. B. um ein Dokument zu diktieren, anstatt es abzutippen. Hier spielen auch Autokorrektur, Rechtschreibprüfung, und Vorschläge, um den diktierten Text zu bearbeiten, eine Rolle

Bildschirmeinstellungen

Die Bildschirmeinstellungen können angepasst werden, z.B. um die Menge an Licht und blauem Licht zu verringern (Filtern).
Man kann Night Shift (für Apple-Geräte) oder Night Light (für Windows) verwenden und bei Android gibt es je nach Version verschiedene Optionen.

Man kann auch einen Dunkelmodus aktivieren, damit wir unsere Augen entspannen können. 

Der Zoomfaktor oder die Schriftgröße können ebenfalls angepasst werden. Oder man kann die Bildschirmlupe aktivieren, um größere Bereiche anzuzeigen.

Fazit

Es gibt viele barrierefreie Hilfsmittel, die die Produktivität und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden fördern und für die Unternehmen keine zusätzlichen Kosten verursachen.

In einer amerikanischen Studie von JAN in 2020 gaben 56% der Befragten an, dass Barrierefreiheitsmaßnahmen für die Arbeitnehmende im Endeffekt keine zusätzlichen Kosten verursachen.
Bei den Anpassungen, die einmalige Kosten verursachten, lag der Mittelwert der Ausgaben bei 500 $.

Die durchschnittlichen Kosten für eine Arbeitsplatzanpassung bei Atos UK&I betragen 1/14 der Kosten für die Rekrutierung eines neuen Mitarbeitenden. Ohne das Wissen dieser älteren Kollegen zu berücksichtigen, das bei der Übergabe verloren geht

Barrierefreiheit und digitale Teilhabe am Arbeitsplatz kommt allen zugute. 

Als UXer habe ich meinen Job so beschrieben: „Ich mache Menschen glücklich, beseitige Frustrationen und sorge für ein reibungsloses Erlebnis“.
Dieses Prinzip gilt auch heute noch, allerdings mit dem zusätzlichen Ziel, neue Möglichkeiten für einen bisher unentdeckten Pool an Talenten zu schaffen. Ich helfe Menschen, Barriere zu vergessen und sich auf ihr Potenzial zu konzentrieren, damit sie sich am Arbeitsplatz wohlfühlen und positive Veränderungen bewirken können. 

Schlussendlich geht es bei Barrierefreiheit und Teilhabe am Arbeitsplatz um die Beeinflussung ganzer Arbeits-Ökosysteme und nicht nur um die Verbesserung einer einzelnen Komponente. Es geht um Kulturwandel, um digitale Transformation und um Zusammenarbeit

Und ich freue mich schon darauf.