Zertifizierte Fachkraft für Barrierefreiheit. Was bringt mir das?

Sowohl in meinem „Brotberuf“ als auch als Leiterin des German UPA-Arbeitskreis für Barrierefreiheit hatte ich das Vergnügen, eine ganze Reihe von Kolleg*innen (Designer*innen, Entwickler*innen, Tester*innen und PO/PM) sowie einige Freunde mit Behinderungen auf ihrem Weg zur Barrierefreiheit zu begleiten. Und immer mehr Leute fragen mich nach einem bestimmten Thema: Zertifizierungen für Barrierefreiheit. 

  • Welche Zertifikate gibt es?
  • Lohnt es sich? 
  • Wie viel kostet es? 
  • Wie viel Zeit brauche ich für die Vorbereitung?
  • Was bringt mir das?

Heute, zur Feier des Global Accessibility Awareness Day (#GAAD), werde ich mein Wissen über die wichtigsten und anerkanntesten Zertifizierungsprogramme weitergeben.

Warum wir zertifizierte Fachkräfte brauchen

Ich muss nicht erklären, dass der Abschluss einer Zertifizierung keinen Einfluss auf eurer Wissen über Barrierefreiheit an sich hat. Wir sind uns alle einig, dass ein Dokument mit einer Unterschrift und einem Stempel für sich alleine weder die Erfahrung noch das Fachwissen verbessert.

Zertifizierungen sind nicht primär dazu gedacht, uns etwas beizubringen oder unser Wissen zu verbessern. Sie sollen den Grad der Kompetenz und der Fähigkeiten einer Person im Bereich der Barrierefreiheit zu einem bestimmten Zeitpunkt nachweisen. 

Davon abgesehen: Dies ist meine Erfahrung als Certified Professional. Ich werde meinen Weg mit euch teilen. Ihr müsst dann selbst abwägen und beurteilen, was für einen Nutzen ihr durch eine Zertifizierung haben würdet.

Was hat es mir gebracht

  1. Der Abschluss einer Prüfung hat mich gezwungen, das erforderliche Wissen durchzugehen, und ich habe dabei doch das eine oder andere gelernt. Ich hatte seit mehr als 6 Jahren nicht mehr als Frontend-Entwicklerin gearbeitet. Während der Prüfungen habe ich also tatsächlich eine Menge gelernt und mein Wissen aktualisiert.
    Die Chancen stehen gut, dass auch ihr etwas lernen werdet, unabhängig davon, wie erfahren ihr seid.
  2. Als ausländische Frau, die in Deutschland in leitender Funktion in der IT-Beratung tätig ist, hat mir das Zertifikat eine Menge „Sind Sie sicher, dass Sie das können?“-Spielchen erspart. Ich kann meine Zeit und die meiner Kunden besser nutzen, wenn wir uns alle einig sind, dass ich weiß, was ich tue. Falls ihr euch gefragt habt, was die Zertifizierung durch eine etablierte Organisation für mich bedeutet hat.
  3. Ich erhielt Zugang zu einer neuen Gemeinschaft. Ich war einer der ersten CPWA im deutschsprachigen Raum und wurde daher eingeladen, auf verschiedenen Veranstaltungen über meine Erfahrungen zu sprechen. 
  4. Im IAAP newsletter wurde ich bereits einige Male in der Rubrik “Certificants in the news” vorgestellt. Diese Einträge habe ich in meinen Lebenslauf aufgenommen 😉 .
  5. Ich habe an der Übersetzung der Zertifizierungen ins Deutsche mitgewirkt. Zusammen mit meinen öffentlichen Auftritten als Rednerin hat mir das meinen jetzigen Job eingebracht. Ich habe nie daran gedacht, mich auf eine Vollzeitstelle im Bereich Barrierefreiheit zu bewerben, schon gar nicht als Head of Accessibility & Digital Inclusion. Aber aus der IAAP-Arbeitsgruppe heraus erhielt ich eine Einladung, mich auf eine neue Stelle zu bewerben.

Zu meinem zweiten Punkt: Wenn du ein weißer Mann mittleren Alters bist, der keine sichtbare Behinderung hat und einen Anzug trägt, der nicht „queeres“ an sich hat, wirst du wahrscheinlich nicht genauso viel Nutzen aus einer Zertifizierung ziehen. Aber Vorurteile und Intersektionalität sind eine Realität, unabhängig davon, ob man sie selbst erlebt oder nicht.

Damit eine Zertifizierung etwas wert ist, muss der Zertifizierungsanbieter dafür sorgen, dass das geprüfte Wissen zu einem bestimmten Zeitpunkt auf dem neuesten Stand ist. Ein Wissen, das einmal geprüft wurde und zu einem Stempel auf Lebenszeit führt, kann nicht den gleichen Wert haben wie eine Zertifizierung, die von der zertifizierten Person erwartet, dass sie Anstrengungen nachweist, um auf dem neuesten Stand zu bleiben, oder die von Zeit zu Zeit eine erneute Zertifizierung verlangt.

Zertifizierte Fachkraft für Barrierefreiheit (Certified Accessibility Professional) und andere Zertifizierungen

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das „Abschlusszertifikat“ oder die „Teilnahmebescheinigung“ eines Kurses eine Person nicht zu einem zertifizierten Fachkraft macht. Es zeigt nur an, dass jemand einen Kurs durchgeklickt oder vollständig besucht hat und wahrscheinlich einige Fragen richtig beantwortet hat (oft in einem Fragebogen, den man nach dem Zufallsprinzip wiederholen kann, bis man 100% erreicht).

In diesem Artikel gehe ich näher auf die IAAP-Zertifizierungen (International Association of Accessibility Professionals) ein, denn damit kenne ich mich am besten aus. Ich werde auch auf andere Zertifizierungen eingehen, wie die ADA trusted tester certification–Section 508 (ADA steht für Americans with Disability Act), das AODA Certificate (Accessibility for Ontarian with Disability Act), die Accessibility Professional Certification (University of South Australia) und die österreichischen Zertifizierung Certified WebAccessibility Expert (incite: UBIT-Akademie).

IAAP - International Association of Accessibility Professionals

Die IAAP bietet 4 Arten von Zertifizierungen an: Core Competencies (CPACC), Web Specialist (WAS), Document Specialist (ADS) und Built Environments (CPABE). Eine 5. Zertifizierung wird nach Abschluss von CPACC und WAS angeboten: the Certified Professional in Web Accessibility (CPWA).

Die Preise für die Prüfungen findet ihr hier. Im Jahr 2022 liegen sie zwischen $170–$650, je nach IAAP-Mitgliedschaft und Herkunftsland. Wenn ihr aus einem Land des globalen Südens (country with a developing economy) kommt, erhaltet ihr nach der Anmeldung per E-Mail einen Rabattcode, den ihr während des Zahlungsvorgangs nutzen könnt.

Ihr könnt eine Hilfestellung beantragen, durch die ihr während der Prüfung die doppelte Zeit erhaltet (z.B. wenn ihr einen Screen Reader benutzt). Ihr könnt euch sogar eine eigene Prüfungsaufsicht suchen, wenn diese Person bereits im Besitz der Zertifizierung ist, für die ihr die Prüfung ablegen werdet. Ich habe schon mehrmals als Prüfungsaufsicht für blinde Kollegen und Freunde fungiert (in der englischen und deutschen Version der Prüfungen). Ich kann nur sagen, dass das IAAP-Zertifizierungsteam sehr hilfsbereit war und immer ein offenes Ohr für Feedback hatte.

Alle Zertifizierungen laufen nach 3 Jahren ab. Um die Zertifizierung aufrechtzuerhalten oder zu erneuern, müssen Fachkräfte nachweisen, dass sie auf dem neuesten Stand sind. Dies geschieht durch ein Punktesystem namens CAECs (Continuing Accessibility Education Credits). Ihr könnt CAECs für die berufliche Weiterentwicklung erwerben, indem ihr euer Wissen über Barrierefreiheit erweitert oder weitergebt.

Entwicklungs-CAECs können durch die Teilnahme an Fachkonferenzen, Kursen, Workshops, Webcasts und ähnlichen von der IAAP genehmigten Aktivitäten erworben werden.

CAECs für die Weitergabe von Wissen erhaltet ihr, wenn ihr außerhalb euer beruflichen Tätigkeit öffentlich Vorträge haltet und euch für Barrierefreiheit einsetzt, wenn ihr Bücher, Blogs, Artikel (für 5 Artikel in einem Jahr erhaltet ihr 1 CAEC) oder andere Texte über das Thema veröffentlicht, wenn ihr an formalen Mentoring-Programmen teilnehmt, wenn ihr auf IAAP- oder anderen genehmigten Bildungsveranstaltungen Vorträge haltet oder wenn ihr ehrenamtlich für die IAAP tätig seid (z.B. Teilnahme an Arbeitsgruppen und Beteiligung an Prüfungen).

Die IAAP-Mitgliedschaft

Für Einzelmitglieder beinhaltet die Mitgliedschaft Ermäßigungen für Zertifizierungsprüfungen ($100 pro Prüfung) und vollen Zugang zu allen aufgezeichneten Webinaren, einschließlich der folgenden Pakete:

Preise und Jahresgebühr

  • $195 USD Berufstätige 
  • $60 USD Fachleute aus Ländern des globalen Südens
  • 55 USD Studierende

Es gibt auch Unternehmensmitgliedschaften (von Associate bis Platin) und Optionen für gemeinnützige Organisationen, Behörden und Bildungseinrichtungen (von Level-I bis Platin).

Weitere Informationen findet ihr auf der IAAP Mitgliedschaftsseite.

CPACC

CPACC steht für Certified Professional Accessibility Core Competencies (Zertifizierte Kernkompetenzen für Barrierefreiheit)

Andere Online-Ressourcen

CPWA

CPWA steht für Certified Professional in Web Accessibility.

Diese Bezeichnung wird an Personen vergeben, die sowohl die Prüfung zum Certified Professional in Accessibility Core Competencies (CPACC) als auch die Prüfung zum Web Accessibility Specialist (WAS) erfolgreich abgelegt haben.

  • Preis: kostenlos.
  • Gültigkeitsdauer: Läuft 3 Jahre nach Erhalt der letzten Zertifizierung ab. Jede einzelne Erneuerung würde 35 CAECs für WAS und 45 CAECS für CPACC (insgesamt 80 CAECS) bedeuten. Wenn ihr das zweite Zertifikat besteht und CPWA werdet, benötigt ihr „nur“ 55 CAECs alle 3 Jahre (und sowohl WAS als auch CPACC werden automatisch verlängert).
  • Sprachen: Englisch. Es ist eine deutsche Version verfügbar. Eine spanische Version wird derzeit übersetzt.

ADS

ADS steht für Accessible Document Specialist.

  • Preise: Mitglieder/Wiederholung: $430/$245, Nicht-Mitglieder/Wiederholung: $530/$305, Land des globalen Südens (country with a developing economy)/Wiederholung: $225/$110.
  • Vorbereitung: Ihr könnt euch online mit dem Kurs IAAP Document Accessibility overview by Dax Castro, ADS and Chad Chelius, ADS vorbereiten (kostenlos für IAAP-Mitglieder, ihr müsst per E-Mail einen Rabatt-Code anfordern, $125/$88 für Nicht-Mitglieder).
  • Gültigkeitsdauer: Läuft nach 3 Jahren ab. Für eine Verlängerung nach 3 Jahren benötigt ihr 35 CAECs.
  • Sprachen: Englisch. Eine deutsche Version dieses Zertifikats ist für 2023 geplant. Die Übersetzungsarbeiten werden nach diesem Sommer beginnen.

CPABE

CPABE steht für Certified Professional in Accessible Built Environments. Es gibt 3 Level.

Level 1 – Associate Accessibility Professional

  • Preise: Mitglieder/Wiederholung: $430/$245, Nicht-Mitglieder/Wiederholung: $530/$305, Land des globalen Südens (country with a developing economy)/Wiederholung: $225/$110.

Level 2 – Advanced Accessibility Professional

  • Preise: Mitglieder/Wiederholung: $500/$300, Nicht-Mitglieder/Wiederholung: $600/$360, Land des globalen Südens (country with a developing economy)/Wiederholung: $250/$150.

Level 3 – Expert Accessibility Professional

  • Preise: Mitglied/Wiederholung: $650/$390, Nicht-Mitglied/Wiederholung: $750/$450, Land des globalen Südens (country with a developing economy)/Wiederholung: $325/$195.

ADA trusted tester certification–Section 508

  • Preis: kostenlos.
  • Dauer des Kurses: 10+ Stunden.
  • Lehrmethode: Webbasiert. Das Zertifikat ist erforderlich für US-Verwaltungsbehörden und Regierungsaufträge.
  • https://training.section508testing.net/

Canada–AODA

AODA steht für Accessibility for Ontarian with Disabilities Act.

  • Preis: kostenlos.
  • Dauer des Kurses: 1 Stunde.
  • Lehrmethode: Webbasiert.
  • Das Zertifikat ist für ALLE kanadischen Arbeitnehmer vorgeschrieben (ihr könnt den Kurs auch absolvieren, wenn ihr im Ausland seid und nicht in Kanada arbeitet).
  • Es geht mehr um Behinderungen und Barrierefreiheit am Arbeitsplatz als um technisches Wissen.
  • https://www.aoda.ca/free-online-training.

Accessibility Professional Certification (University of South Australia)

  • Preis: AUD $2.400 (ex GST) für australische Studierende / AUD $2.400 für internationale Studierende.
  • Kursverpflichtung: Flexibel – In eurem eigenen Tempo. 3 Stunden pro Woche empfohlen.
  • Lernaufwand: 10-12 Stunden pro Woche, einschließlich Bewertungsaufgaben.
  • Dauer des Kurses: 6 Wochen.
  • Lehrmethode: Webbasiert. International.

Zertifizierung Certified WebAccessibility Expert (incite: UBIT-Akademie)

  • Kosten der Zertifizierung: 340€ + Steuern.
  • Dauer des Kurses: 6 Webinare (je 3,5h). Kurspreis: 990€ + Steuern.
  • Lehrmethode: Webbasiert.
  • Gültigkeitsdauer: Läuft nach 3 Jahren ab. Um den Zertifizierungsstatus aufrechtzuerhalten, muss die zertifizierte Person 30 Fortbildungspunkte seit dem letzten Zertifizierungsdatum nachweisen. Dies kann durch die Teilnahme an Konferenzen, das Halten von Vorträgen, das Schreiben von Artikeln, das Erlernen von Kursen oder die Mitgliedschaft in Barrierefreiheits-AGs erfolgen.
  • Das Zertifikat wird von der Wirtschaftskammer Österreich unterstützt.
  • https://www.incite.at/de/kurse-zertifikate/certified-webaccessibility-expert/

Fazit

Sicherlich werden einige sagen, dass Prüfungen per se eine sehr ableistische Form der Wissensüberprüfung sind und dass eine barrierefreie Zertifizierung von Barrierefreiheit ein Mythos ist. Das ist nicht falsch: Manche Menschen werden durch Prüfungsstress vorübergehend behindert oder vollständig blockiert.

Die Sache ist die: Wir leben in einer unvollkommenen Welt, was nicht bedeutet, dass wir nicht unser Bestes tun können, um sie besser zu machen.

Meiner Erfahrung nach zeigen Zertifizierungen, dass Barrierefreiheit für euch und euer Unternehmen wichtig ist. Sie dienen als Nachweis, dass euer Wissen relevant ist, und diejenigen Zertifikate, die euch dazu verpflichten, weiter zu lernen oder zu unterrichten, sorgen für mehr Glaubwürdigkeit. 

Es gibt bereits wenig empfehlenswerte Anbieter im Bereich der Barrierefreiheit. Menschen und Unternehmen, die versuchen, aus den Bedürfnissen anderer Menschen Geld zu machen. Menschen und Unternehmen, die behaupten, dass sie helfen können, Barrierefreiheitskriterien einzuhalten, aber in Wirklichkeit nicht die geringste Ahnung von Barrierefreiheit oder Behinderung haben.

Eine Zertifizierung kann dabei helfen, einige dieser wenig empfehlenswerten Anbieter herauszufiltern, denn man braucht Wissen, um eine Zertifizierung für Barrierefreiheit zu bestehen.

Ich habe eine Weile gebraucht, um die Zertifizierung zu erhalten. Um ehrlich zu sein, erschien mir die Aussicht, sie alle drei Jahre erneuern zu müssen, entmutigend, teuer und kompliziert. Dennoch bin ich sehr froh, dass ich die Zeit und Energie investiert habe und die Zertifizierung erhalten habe.

Jetzt weiß ich, dass ich mir aufgrund meiner Teilnahme an kostenlosen Konferenzen und Treffen oder an den Webinaren, die ich als zahlendes Mitglied der IAAP kostenlos erhalte, nicht allzu viele Gedanken über die Erneuerung machen muss. Ich muss nur daran denken, die CAECs abzuschicken, obwohl ich erwarten würde, Erinnerungen und eine zweite Chance zu bekommen, falls ich vergesse, sie rechtzeitig abzuschicken.

Euer persönlicher Weg mag anders aussehen, aber ich hoffe, dass ihr nach der Lektüre dieses Artikels ein besseres Verständnis von Zertifizierungen für Barrierefreiheit und deren Nutzen für euch habt.