Usability und Accessibility – zwei Seiten der gleichen Medaille?
Wenn es um das Thema Barrierefreiheit geht, werden viele Begriffe in einen Topf geworfen. Accessibility, Barrierefreiheit, Barrierearmut, Zugänglichkeit, Inclusive Design, Design für alle, Usability und dergleichen mehr. All diese Begriffe sind de facto Etiketten ohne verbindlichen Rahmen, denn Barrierefreiheit wird nicht nur in Deutschland nach verordneten Richtlinien umgesetzt – nämlich nach der BITV (Barrierefreie Informationstechnologie Verordnung) und im internationalen Kontext nach den WCAG (Web Content Accessibility Guidelines).
Und wie steht es mit dem Verhältnis von Accessibility zu Usability. Accessibility und Usability haben vor diesem Hintergrund wenig miteinander gemein. Das W3C (World Wide Web Consortium) liefert in ihrer Einleitung zur Erläuterung der WCAG-Techniken die Erklärung dazu:
„Es gibt viele grundsätzliche Usability-Richtlinien die Content für alle Menschen besser nutzbar machen, inklusive Menschen mit Behinderung. Wie dem auch sei, in den WCAG 2.0 werden nur solche Richtlinien aufgenommen, die explizit Probleme von Menschen mit Behinderung adressieren“
Accessibility hat mit Usability aus Sicht der Richtlinien-Konformität daher wirklich nichts zu tun. Im Gegenteil, in viele Prüfschritten wird ganz explizit auf den Bereich der Usability verwiesen.
Sütterlinschrift ist WCAG konform
Wenn Sie beispielsweise Sütterlinschrift (oder eine andere völlig unlesbare Schrift) verwenden, dann ist das kein WCAG-Fehler im Sinne der Prüfkriterien. Eine gut lesbare Schrift ist dort nur eine Empfehlung. Trotz der ganz offensichtlichen Barriere, die eine nicht lesbare Schrift verursacht.
Blume als Mobil-Menü-Button
Wenn Sie das Sütterlin-Beispiel schon interessant finden, es geht noch bunter: die Bedeutung ein grafischen Funktionselements beispielsweise muss der Allgemeinheit nicht bekannt sein. Man könnte sogar eine Blume als Mobil-Menü-Button nutzen. Denn es gibt keine Richtlinie für Barrierefreiheit, die das verbieten würde. Wenn das HTML inklusive ARIA-Attribute korrekt und maschinenlesbar ist, ist alles in Butter. Die Blume als Mobil-Menü-Button wird jeden Konformitätstest bestehen müssen – weil es schlicht keine Prüfroutine gibt, die das verbietet.
Usability unterstützt die Barrierefreiheit
Usability verbessert die Accessibility – aber nicht umgekehrt. Usability-Regeln wenden sich nicht explizit an Menschen mit Behinderung und berücksichtigen in der Regel keine individuellen Anforderungen, die sich durch eine Behinderung ergeben können. Trotzdem verbessern sie die Zugänglichkeit – gerade weil Sie in den offiziellen Richtlinien für Barrierefreiheit ignoriert werden. Ob es sich nun um eine ausreichend große Basisschrift, erhöhte Zeilenabstände, gut lesbare Schriftarten, optimierte Ladezeiten, eine einfache und verständliche Sprache oder einfach ein klares User Interface Design handelt – Usability verbessert damit die Zugänglichkeit.
Fazit
Es gibt viele WCAG-Empfehlungen, die sich im Grenzbereich Usability bewegen. WCAG-Richtlinien hingegen klammern allgemeine Usability-Regeln bewusst aus. Der Artikel ist für das usabilityblog.de entstanden, wo Sie ihn in der Langfassung lesen können.
Jörg Morsbach, Diplomdesigner und Kommunikationswirt (WAK), betreibt bereits seit 2003 die Düsseldorfer Agentur anatom5 und macht sich aus Überzeugung für universelles Design und einen weit reichenden Inklusionsgedanken stark. anatom5 wurde vielfach für Barrierefreiheit ausgezeichnet. Seit Anfang 2017 ist Jörg Morsbach zugelassener Erstprüfer des BITV-Test (BIK-Test). Sein heimliches Steckenpferd ist die Suchmaschinenoptimierung.
Zum Portfolio von anatom5 gehören Internetauftritte und Webapps ebenso, wie barrierefreie PDF-Dokumente und Übersetzungen in leichte Sprache. Zudem hat anatom5 mit dem Barriere-Check Pro ein Testverfahren entwickelt, das auch WCAG-Empfehlungen, Best-Practice Lösungen, Aspekte der Usability und Performance sowie BITV-Anforderungen der Priorität 2 berücksichtigt.
Sein Credo lautet:
Ohne Screenreader-Tests und Analysen im Detail ist Testen mit automatisierte Testtools nur das sprichwörtliche „Fischen im Trüben“.