Erwartungen deutscher Behindertenverbände an den European Accessibility Act

Nachfolgend möchten wir unabhängig von der Veröffentlichung des Dokumentes auf den Webseiten des Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) und des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) das Forderungspapier zur Kenntnisnahme vom 18.05.2020 veröffentlichen:

Spürbar mehr Teilhabe durch barrierefrei zugängliche Produkte und Dienstleistungen!

Das europäische Barrierefreiheitsgesetz, der European Accessibility Act – EAA (RL [EU] 2019/882), legt mit einheitlichen Regeln europaweit fest, dass und wie bestimmte Produkte und Dienstleistungen künftig barrierefrei zugänglich sein müssen. Unter diese Vorgaben fallen insbesondere Computer und Smartphones, Check-in- und Fahrkartenautomaten, Router und Fernsehgeräte, Geldautomaten und Bankdienstleistungen, Notrufdienste, E-Books und E-Book- Reader sowie der Onlinehandel.

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) und der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) formulieren nachfolgend die Erwartungen blinder und sehbehinderter Menschen an die Umsetzung der europäischen Vorgaben in Deutschland:

1. Klares Bekenntnis zur gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen im Umsetzungsgesetz!

Die europaweit einheitlichen und verlässlichen Vorgaben zur Barrierefreiheit sollen Handelshemmnisse für die Wirtschaft abbauen. Barrierefrei zugängliche Produkte und Dienstleistungen erschließen der Wirtschaft einen deutlich größeren Konsumentenkreis. Gleichzeitig dienen die Vorgaben im EAA der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Daraus folgt:

  • Der Gesetzgeber muss sich bei der Umsetzung des EAA in deutsches Recht klar dazu bekennen, dass die großen Gruppen der behinderten Menschen und der Menschen mit funktionellen Einschränkungen nicht länger Kunden zweiter Klasse sind, sondern endlich gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Produkten und Dienstleistungen privater und öffentlicher Anbieter haben müssen wie jeder andere auch.
  • Deutschland muss von den durch den EAA eröffneten Spielräumen Gebrauch machen, um die Rechte behinderter Menschen zu stärken. Das heißt u. a.: Die Bundesländer müssen verbindliche Anforderungen zur Barrierefreiheit der baulichen Umwelt, die die im Geltungsbereich des EAA enthaltenen Produkte und Dienste umgibt, festlegen. Relevante technische Normen sind entsprechend anzupassen. Nur so wird etwa sichergestellt, dass der barrierefreie Geldautomat auch von behinderten Menschen auffindbar und stufenlos erreichbar ist. Fehlen solche Anforderungen, dann läuft der EAA ins Leere.
  • Deutschland muss in das Umsetzungsgesetz auch solche Bereiche einbeziehen, die vom EAA nicht erfasst sind, z. B. den beruflich genutzten Computer, das Geschäftskonto und alle geschäftlich genutzten Bankdienstleistungen. Es wäre schwer vermittelbar, diese Bereiche auszuklammern. Eine 1:1-Umsetzung, wie sie politisch oft gefordert wird, würde zu schwer verständlichen Vorschriften und damit zu Unsicherheiten führen.
  • Deutschland muss sicherstellen, dass sich Wirtschaftsakteure auf die im EAA vorgesehenen Ausnahmen von der Verpflichtung zur Barrierefreiheit nur in wirklich legitimen Fällen berufen können. Dazu gehören strenge Anforderungen an die Begründung sowie strenge Kontrollen. Zudem sollten begleitende Förderprogramme verhindern, dass sich Wirtschaftsakteure auf eine unverhältnismäßige Belastung berufen.
  • Deutschland muss die Vorschriften des EAA so schnell wie möglich anwenden. Von den im EAA eröffneten Verzögerungsmöglichkeiten, etwa den teils jahrzehntelangen Übergangsfristen, darf der Gesetzgeber keinesfalls Gebrauch machen.

2. Barrierefreiheit braucht einheitliche und der Teilhabe verpflichtete technische Standards!

Viele Regelungen des EAA werden durch technische Spezifikationen, z. B. Normen oder delegierte Rechtsakte, konkretisiert. Barrierefreiheit wird sich in der Praxis nur durchsetzen, wenn Wirtschaftsakteure auf einheitliche und allgemein gültige Standards zurückgreifen können. Daraus folgt:

  • Deutschland muss sich auf europäischer Ebene dafür stark machen, dass für alle durch Europarecht geregelten Barrierefreiheitsbestimmungen einheitliche europäische technische Standards gelten.
  • Die Definition der technischen Standards muss dem Geist der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen verpflichtet sein und die rechtlichen Vorgaben im EAA großzügig interpretieren.
  • Der bereits für die EU-Webseitenrichtlinie harmonisierte Standard EN 301 549 muss im digitalen Bereich auch für die Zwecke des EAA genutzt und weiterentwickelt werden.
  • Menschen mit Behinderungen müssen effektive Möglichkeiten erhalten, auf die Festlegung der technischen Spezifikationen Einfluss zu nehmen.

3. Wirksamer Verbraucherschutz ist essentiell!

Der EAA sieht nicht vor, dass der Staat vor dem Inverkehrbringen prüft, ob Produkte oder Dienstleistungen tatsächlich barrierefrei sind. Er überprüft auch nicht generell, ob sich ein Anbieter im Einzelfall zu Recht darauf beruft, ausnahmsweise keine Barrierefreiheit herzustellen. Vielmehr schätzen sich die Wirtschaftsakteure im Rahmen einer Konformitätsbewertung selbst ein. Verbraucher sind in dieser Situation strukturell unterlegen. Wie barrierefrei E-Books, Bankdienstleistungen, Selbstbedienungsterminals, der Onlinehandel etc. künftig tatsächlich sind, wird vor diesem Hintergrund maßgeblich davon abhängen, wie effektiv der Verbraucherschutz funktioniert. Daraus folgt:

  • Das von den Wirtschaftsakteuren vorzunehmende Konformitätsbewertungsverfahren für Produkte muss durch eine verpflichtend einzubeziehende staatlich benannte und überwachte Prüfstelle begleitet und kontrolliert werden. Das Konzept der Prüfstellen hat sich bereits im Bereich der Produktsicherheit etabliert und kann Vorbild für den Bereich der Barrierefreiheit sein, gerade weil es mit dem Inkrafttreten des EAA erstmals verbindliche Anforderungen an die Barrierefreiheit für die Privatwirtschaft gibt.
  • Bei der Erarbeitung von Konformitätsanforderungen an Dienstleistungen sind Menschen mit Behinderungen über die sie vertretenden Organisationen einzubeziehen.
  • Die staatliche Marktüberwachung muss zentral organisiert werden und mit effizienten Handlungsmöglichkeiten für eine systematische Kontrolle und Überwachung ausgestattet sein.
  • Die mit Marktüberwachung verbundene Kommunikation, insbesondere bei Veröffentlichungen über nicht barrierefreie Produkte und Dienstleistungen und im Rahmen des Rückrufmanagements, hat barrierefrei zu erfolgen.
  • Menschen mit Behinderungen sind in den Marktüberwachungsprozess über die sie vertretenden Organisationen einzubeziehen.
  • Es müssen effektive Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten geschaffen werden. Das schließt neben dem Individualrechtsschutz vor Gericht Schlichtungsverfahren als niedrigschwellige Konfliktlösungsmöglichkeit ebenso ein, wie die Schaffung kollektiven Rechtsschutzes mittels Verbands- oder Musterfeststellungsklagen. Entsprechende Vorschriften sind gesetzlich zu verankern. Organisationen behinderter Menschen muss eine Klagebefugnis insoweit gesetzlich eingeräumt werden.
  • Verstöße gegen die Verpflichtungen zur Barrierefreiheit müssen spürbare Sanktionen für die Wirtschaftsakteure nach sich ziehen. Neben insbesondere Schadenersatz- und Entschädigungsleistungen sind auch entsprechende Straf- und Bußgeldvorschriften vorzusehen.

4. Barrierefreiheit fördern!

Damit Barrierefreiheit auch praktisch zur Realität wird, sind begleitende Maßnahmen dringend erforderlich. Daraus folgt:

  • Das Thema Barrierefreiheit ist in die Ausbildungs- und Studienpläne, Prüfungsordnungen, Weiterbildungsprogramme und Schulungsmodule aller Berufssparten einschließlich der Weiterqualifizierung verpflichtend aufzunehmen.
  • Es ist ein Förderprogramm aufzulegen, um Unternehmen dabei zu unterstützen, Barrierefreiheit voranzubringen. Davon sollten unbedingt auch Kleinstunternehmen profitieren, die von den Verpflichtungen des EAA weitgehend ausgenommen sind, für alltäglich benötigte Produkte und Dienstleistungen aber eine enorme Bedeutung haben.
  • Es sollte ein „Barrierefreiheits-Siegel“ eingeführt und gefördert werden. Einerseits kann dieses Label zu mehr Transparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher beitragen, die allein über das CE-Kennzeichen keine ausreichende Informationsgrundlage erhalten. Andererseits kann so Barrierefreiheit insgesamt gestärkt werden, weil sich auch Kleinstunternehmen, die vom EAA ausgenommen sind, beteiligen und einen Beitrag für mehr gleichberechtigte Teilhabe leisten können.
  • Es sollte wissenschaftliche Begleitforschung gefördert werden, um fördernde und hemmende Faktoren für mehr Barrierefreiheit zu identifizieren. So können Strategien und Programme entwickelt werden, um Barrierefreiheit nachhaltig zu implementieren.

Der Zugang zu Produkten und Dienstleistungen der öffentlichen Hand und privater Anbieter ist ein Menschenrecht. Die Pflicht zum Handeln ergibt sich nicht nur aus dem EAA, sondern auch aus der von Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention. DBSV und DVBS erwarten daher, dass Deutschland für die Bereiche, für die der EAA keine Regelungen vorsieht, auf nationaler Ebene aktiv wird. Besonders dringend: Die Digitalisierung erfährt durch die Corona-Pandemie eine ungeahnte Beschleunigung. Wir fordern daher verbindliche Regeln, die digitales Lernen, Arbeiten, Kommunizieren und Informieren endlich für alle barrierefrei möglich machen.

verabschiedet am 18.05.2020

  • vom Präsidium des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e. V. (DBSV)
  • vom Vorstand des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. (DVBS)