WCAG 2.2 – was ändert sich und wie wirkt es sich aus?

Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) sind ein internationaler Standard, um Webinhalte für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu machen. Die aktuell gültige Version (Stand Mai 2001 20) sind die WCAG 2.1. Eine aktualisierte Version der WCAG (dann 2.2) wird voraussichtlich im Sommer 2021 zum offiziellen Standard. Die Version 2.2 wird mit 9 neuen Erfolgskriterien sowie der Heraufstufung eines Prüfschritts von AA auf A aufwarten. Im Kern konzentrieren sich die Neuerungen auf zusätzliche Hilfen zur Unterstützung von Menschen mit einer Lernbehinderung, sowie spezielle Kriterien für eBooks, Touchscreens und mobile Lösungen. Grundsätzlich folgen die WCAG 2.2 der gleichen Struktur, die Sie vermutlich bereits von WCAG 2.0 bzw. WCAG 2.1 kennen es ist also noch kein Paradigmenwechsel, wie es für die zukünftige WCAG 3.0 erwartet wird. 

Was ist neu in den WCAG 2.2

2.4.7 sichtbarer Tastaturfokus

Zunächst einmal wurde die Richtlinie 2.4.7 sichtbarer Tastaturfokus von WCAG Level AA auf WCAG Level A hochgestufte. Das hat in Europa de facto keine Bedeutung, denn EU-Richtlinie 2102 (europäische Gesetzgebung) und deutsche Gesetzgebung (BITV und Landesgesetze) verlangen ohnehin WCAG Level AA, in dem Level A bereits enthalten ist. Diese Hochstuhlfunk ist also nur dort von Bedeutung, wo jemand außerhalb der Gesetzgebung die Mindestanforderung der WCAG Level A erfüllen möchte/muss. Wie gesagt, in Deutschland ist das im Rahmen der bestehenden Gesetze ohnehin Pflicht. 

2.4.11 Fokus Erscheinungsbild

Dieser Prüfschritt ist neu und ist auch insofern spannend, als dass dieser genau definiert, wie ein Fokus mindestens gestaltet sein muss. In der Vergangenheit gab es immer wieder Definitionsprobleme, was genau ein gut sichtbarer Tastaturfokus ist, weil als Mindestanforderung auch immer der sogenannte Browser-Default herangezogen werden konnte. Dieser ist aber in verschiedenen Browsern sehr unterschiedlich und teilweise auch ziemlich schlecht. Hier kommt der Prüfschritt 2.4.11 Fokus Erscheinungsbild zum Tragen. Um diesen Prüfschritt zu erfüllen, müssen folgende Kriterien erfüllt sein:

  • Mindestbereich: Der Bereich der Fokusanzeige muss größer oder gleich 1 CSS-Pixel-Rand des fokussierten Elements sein, oder muss eine Stärke von mindestens 8 CSS-Pixeln entlang der kürzesten Seite des Elements aufweisen.
  • Kontrast bei Farbänderung: Der Farbwechsel für den Fokusanzeigebereich muss ein Kontrastverhältnis von mindestens 3:1 zu den Farben des nicht fokussierten Zustandes haben.
  • Angrenzender Kontrast: Der Fokusanzeigebereich hat ein Kontrastverhältnis von mindestens 3:1 zu allen benachbarten Farben oder hat eine Stärke von mindestens 2 CSS-Pixeln.
  • Unverdeckte Sichtbarkeit: Das Element mit dem Fokus ist nicht vollständig durch vom Autor erstellte Inhalte verdeckt.

2.5.7 Ziehen

In modernen Interfaces und insbesondere in Webapplikationen und Apps spielen Funktionen wie Drag and Drop, beispielsweise bei der Individualisierung von Dashboards oder der Sortierung von Elementen in E-Learning-Anwendungen eine immer größere Rolle. Vor allem, wenn man simplere Interface-Komponenten, wie Schieberegler dazu rechnet. Prüfschritt 2.5.7 Ziehen geht es darum, dass für solche Interface-Komponenten Alternativen angeboten werden müssen, wenn die Funktion des Ziehens nicht absolut erforderlich für die Ausführung ist. Bieten Sie Alternativen zum Ziehen in einer Benutzeroberfläche an, sofern das Ziehen nicht unbedingt erforderlich ist. Stellen Sie beispielsweise sicher, dass Benutzer beim Einsatz von Schieberegler für einen Suchfilters (zum Beispiel für eine Preisspanne) auch mit den Schaltflächen „+“ und „-“ oder durch Eingabe einer Zahl in ein Eingabefeld anpassen können, sodass sie eine Alternative zum Schieberegler haben, den sie gegebenenfalls nicht bedienen können.

2.5.8 Zeigerziel Mindestgröße / Mindestabstände

Dieser Prüfschritt ist vor allem für Designer*innen interessant. Denn hier geht es um eine Mindestgröße und um Mindestabstände von interaktiven Elementen, wie beispielsweise Buttons. Kleine Funktionselementen, die kleiner als 44 Quadratpixel groß sind, müssen in der Summe zumindest eine insgesamt 44 Quadratspixel große Klickfläche bieten – ein Button von 24 Quadratspixeln Größe, benötigt also mindestens zehn Pixel zusätzliche Klickfläche an allen Seiten, um die Mindestanforderung zu erfüllen (10 + 24 + 10 = 44). Lassen Sie also am besten immer ausreichend Platz um fokussierbare Elemente. Dazu gehören Navigationslinks, Schaltflächen, Formularfelder, etx. Ausgenommen von der Regel sind alle Inline- Funktionselementen, wie beispielsweise Links innerhalb von Absätzen oder Listen.

3.2.6 Auffindbaren Hilfe

Wenn Sie Kontaktinformationen bereitstellen (Formulare, E-Mails, Telefon, Chatbots usw.), platzieren Sie diese an derselben Stelle auf jeder Seite Ihrer Website oder App, sowohl visuell als auch im Code. Das erleichtert für Menschen mit verschiedenen Behinderungsarten die Orientierung. Dieser Prüfschritt hat bezogen auf Hilfen, bzw. Kontaktinformationen in etwa den gleichen Hintergrund, wie der bekannte Prüfschritt 3.2.3 konsistente Navigation. Der Prüfschritt adressiert in dem Fall in erster Linie Menschen mit einer Lernbehinderung oder kognitiven Herausforderungen. Letztendlich hilft dieser Prüfschritt aber auch Screenreader-Nutzer*innen bei der Orientierung.   

3.2.7 Versteckte Bedienelemente

Bedienelemente, die zum Fortschreiten oder Abschließen eines Vorgangs benötigt werden, müssen zu dem Zeitpunkt sichtbar sein, zudem sie benötigt werden, ohne dass die Elemente erst durch Mauszeiger oder Tastaturfokus eingeblendet werden müssen. Falls das nicht der Fall ist, muss es zumindest einen Mechanismus geben, um diese Bedienelemente dauerhaft einzublenden. Da Letzteres aus 1000 Gründen nicht empfehlenswert ist, sollten Sie einfach keine Bedienelemente verstecken, die für einen Prozess wichtig sind. Denken Sie hier beispielsweise an Warenkorb-Bestellprozesse, Bankapplikationen oder auch mehrstufige Anmeldeformulare. Auch dieser Prüfschritt adressiert hauptsächlich Menschen mit Lernbehinderung und kognitiven Herausforderungen. Der Prüfschritt bewegt sich an der Grenze zur Usability und Probleme lassen durch entsprechende Usertests in der Regel schnell identifizieren.  

3.3.7 Barrierefreie Authentifizierung

Auch dieser Prüfschritt adressiert die Bedürfnisse von Menschen mit Lernbehinderung und kognitiven Herausforderungen. Bei dem Prüfschritt geht es um Authentifizierungsverfahren, die sich auf Funktionen stützen für die Benutzer*innen eine bestimmte kognitive Leistung erbringen müssen. Das können beispielsweise Rechenaufgaben sein. Wenn sich ein Authentifizierungsverfahren also auf einen kognitiven Funktionstest stützt, muss zur Erfüllung dieses Prüfschritts mindestens eine Alternative zur Verfügung stehen, die sich nicht auf einen solchen kognitiven Funktionstest stützt. Hier könnte man die alte Usability-Regel einführen „Don’t Make Me Think“. Einfache Alternativen sind beispielsweise Gesichtserkennung, Fingerscan oder die Unterstützung der automatischen Ausfüllfunktion von Passwort-Managern, um nur einige Beispiele zu nennen.

3.3.8 Redundante Einträge

In diesem Prüfschritt geht es ebenfalls darum, interaktive Prozesse zu vereinfachen und Redundanzen zu vermeiden. Deshalb sollen Informationen, beispielsweise in einem Bestellprozess, die von einem Benutzer bereits eingegeben (oder zur Verfügung gestellt) wurden, nicht mehrfach eingegeben werden müssen, es sei denn die wiederholte Eingabe ist für den Prozess essenziell, beispielsweise bei der Bestätigung eines Passworts. Ansonsten sollen bereits eingegeben Informationen vorausgefüllt sein oder zumindest vom Benutzer ausgewählt werden können, damit Redundanzen vermieden werden.

Fazit zur WCAG 2.2

Tatsächlich sind die zusätzlichen Prüfschritte keine großartigen Neuerungen, wenn man die neuen „Usability-Aspekte“ berücksichtigt. Denn die Vermeidung von Redundanzen, Vereinfachung von Prozessen und stringente Anordnung von Informationen (Kontaktmöglichkeiten, Hilfen, etc.) dienen wirklich allen Nutzern. Insofern kann man hier vermutlich auch von einer großen Akzeptanz dieser zusätzlichen Prüfschritte ausgehen, denn ja einfacher solche Prozesse gestaltet sind, umso weniger Abbrüche wird man verzeichnen. Das führt dann vermutlich sogar zu einem echten Return on Investment, also zu einem Mehrwert über die Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben hinaus.