Erfahrungsbericht Autismus-Spektrum

Die Corona-Pandemie hat Digitalisierung vorangetrieben und vieles verändert, auch das Leben von Martin Koob. Denn die Digitalisierung, für viele ein großer Segen, hat ihn plötzlich vor große Probleme gestellt. Inspiriert durch den zum GAAD 2018 erschienenen Artikel Barrierefreiheit für Menschen mit Autismus, in dem Hannah Rosenblatt von ihren Erfahrungen als Menschen auf dem Autismus-Spektrum berichtet, hat Martin Koob angeboten, seine Erfahrung zu teilen. Nachfolgend beschreibt er aus der Ich-Perspektive seinen Weg zur Erkenntnis und vor allem lässt er uns an seinen persönlichen Erfahrungen teilhaben.

Diagnose Autismus-Spektrum: Asperger

Die Pandemie mit ihren neuen und stellenweise großen Anforderungen an veränderte Handelsweisen, insbesondere im Miteinander und in vielen alltäglichen Dingen, stellte mich zu Hause vor große Hürden. Die waren schon immer latent vorhaben, aber nun traten sie verstärkt und nahezu unüberwindlich auf. Spätestens bei der Aufforderung im Jahr 2021, Termine für Tests und Impfungen online oder telefonisch zu vereinbaren, wurde mir klar: Ich benötige Hilfe. Nicht bei der Bewältigung der einzelnen Aufgaben, sondern bei all diesen aufkommenden Barrieren, der Wand vor der ich stehe. 

Meine Hausärztin war verständnisvoll und hilfsbereit und besorgte mir einen Termin bei einer Verhaltenstherapeutin. Wir haben dann über ein Jahr mit der Diagnose „Soziophobie“ rumprobiert – bis sich anhand von weiteren Details meines Lebensweges die Annahme auftat, es könne sich um einen Fall im Autismus-Spektrum handeln: Asperger. Nach einigen Tests und intensiver Erkundung steht nun fest: Dem ist so! Einiges ist völlig anders als man es annehmen würde, anderes ist wiederum wie aus dem Lehrbuch. Aber genau deswegen heißt es ja auch „Spektrum“.

Fluch und Segen der Digitalisierung

Ich verstehe mich selbst nun besser, mitsamt meiner Geschichte. Ich sehe und erkenne aber auch die Hürden der Digitalisierung und die dabei entstehenden Barrieren viel deutlicher, die ja letztlich mein Startpunkt zu meiner Diagnose waren.

Ist E-Mail-Kommunikation zwischen der Unberechenbarkeit der Briefpost und dem Stress von Telefonaten noch ein echter Segen, so sind Chatbots ein Alptraum, da sie meist auf einem Niveau agieren, das zu eindimensional in den Fragestellungen ist. Nachrichtenseiten und ähnliches sind aufgrund Reizüberflutung durch selbststartende Videos oder aufpoppende Werbung eine Zumutung, wie auch Fernsehen, Radio und Streaming von meiner Warte aus nicht mehr zu ertragen sind.

Denn alles, was ich nicht selbst nach eigenem System und eigener Logik in ein „Regal“ eingeordnet habe, ist für mich nicht mehr nachvollziehbar und stresst mich total, da ich mir die Strukturen und Funktionsweisen nicht merken kann. Sie ergeben oft in meinen Augen einfach keinen Sinn. 

Das erschwert vieles in der Arbeitswelt, aber auch im Privaten. Cloud-Speicher erhöhen das Ganze noch durch einen gefühlten Kontrollverlust. Touchscreen-Geräte, wie Smartphones, Tablets oder auch Info-Terminals, mit Menü-Strukturen, dich ich meist nicht selbst beeinflussen kann, sind ein hoher Stressfaktor und werden von mir allerhöchstens in klaren Basisfunktionen genutzt – sofern sie nicht noch mit zusätzlichen Animationen und Sounds reizüberflutend abschrecken.

Ein schwarzes Loch?

Und so wird durch die Digitalisierung vieles für mich nicht leichter, sondern unbenutzbar. Die Barrieren werden mehr und höher, als täte sich ein schwarzes Loch vor mir auf. Und das in einem rasanten Tempo – wobei viele die Problematik nicht verstehen und sie nur mit einem „stell dich nicht so an“ kommentieren. Denn die aus der Behinderung aus dem Autismus-Spektrum heraus entstehenden Barrieren werden oft als solche bislang nicht erkannt. Oftmals ist auch die Behinderung mit ihren Ausprägungen nicht bekannt. Das betrifft auch Behörden, Ärzte und Krankenkassen, die ja eigentlich schon etwas näher am Thema sein sollten. Und auch Webseiten „des alltäglichen Lebens“ berücksichtigen die Bedürfnisse von Menschen auf dem Autismus-Spektrum kaum. Und das, obwohl sich das Leben immer mehr auf ins Web und in Apps verlagert.

Digitalisierung spielt sich aber ja nicht nur im Internet ab. Digitalisierung erfasst alle Lebensbereiche, auch Bereiche, wo es nicht sofort offensichtlich ist. Ein Aspekt, über den ich dabei noch nirgendwo etwas gelesen oder gefunden habe ist zum Beispiel die Bedienung und Anzeigen in modernen Automobilen (und dann auch gerade in Elektromobilen, wobei die Motorisierung an sich nicht das Problem ist). Da läuft nahezu alles nur noch über Touchscreens mit Menus oder sogar Sprachbedienung, die ein zusätzlicher Alptraum ist. Für mich ist das fast nicht mehr bedienbar, einfach eine einzige große zusammengewachsene Barriere. 

Und so muss ich mich als „Autofan seit Kindheitstagen“ (eine Art Inselbegabung 😉) heute damit abfinden, dass ich wohl nie wieder ein neues Auto werde kaufen können, weil mich dessen Bedienung, mit ihrer digitalen Vieldeutigkeit und ihren mehrdimensionalen Navigationsebenen überfordert (anders als bei eindeutigen Schaltern und Knöpfen). Für mich ist das eine einzige große Barriere mit darüber hinaus fragwürdigen Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit. Und es gibt keinerlei Aussicht auf eine behindertengerechte Version. Denn es ist ja nicht damit getan, Schalter zu versetzen und Kabel anders zu verlegen. Ich versuche selbst, schon aus eigenem Interesse, bei den Entwicklungsabteilungen der Automobilkonzerne ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zu wecken. Es wäre schön, wenn die Automobilindustrie erkennen würden, dass sie mit den modernen Benutzerinterfaces „hoch-funktionalen“ Menschen, wie mir, den Zugang verbauen.

Meine Erkenntnis und Hoffnung

Die Digitalisierung und ihre Herausforderungen haben dazu geführt, dass ich mich nun besser kenne, meine Probleme besser verstehe und gleichzeitig auch die Schwierigkeiten und Barrieren, die aus ihr heraus entstehen, besser in Worte fassen kann. Was hoffentlich nicht nur mir helfen wird, sondern auch zu einem besseren Verständnis der besonderen Bedürfnisse von Menschen auf dem Autismus-Spektrum und so zu mehr Barrierefreiheit in der Digitalisierung führt.