Von Fähigkeit und Fokuswechsel: Ein Erfahrungsbericht

Als UX Designerin begegnet mir das Thema der digitalen Barrierefreiheit zunehmend in meinem beruflichen Alltag. Nicht selten wird es jedoch von Kunden und in Projekten als zusätzliche Last empfunden, die für eine gute Lösungsgestaltung eher hinderlich als fördernd ist. Doch woher kommt diese negative Annahme? Und was kann ich als Designerin tun, um ihr entgegenzuwirken und ein optimistischeres, vielversprechenderes Bild von Barrierefreiheit zu verbreiten?

Designtheorie als grundlegender Lösungsbaustein

Auch während meiner Universitätslaufbahn begegnete mir das Thema der (digitalen) Barrierefreiheit häufig – hier jedoch im Rahmen designtheoretischer Konzepte wie „Inclusive Design“, „Universal Design“ oder „Design for All“. Ganz im Sinne von Wissenschaft allgemein, legen diese Konzepte sowie ihre Erforschung und Weiterentwicklung einen wichtigen Grundbaustein für die praktische Umsetzung von Barrierefreiheit in der Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund betrachtet, können diese Konzepte, obgleich in der Theorie definiert, starke praktische Implikationen und Auswirkungen haben.

Defizit- und Fähigkeitsfokussierung in Designansätzen

Mit Barrierefreiheit als grundlegender Motivation verfolgen solche „klassischen“ Designansätze das Ziel, digitale Lösungen für bislang ausgegrenzte Menschen und Zielgruppen zugänglich zu machen – eine Herangehensweise, welche die (angenommenen) Behinderungen und Defizite solcher Gruppen in den Fokus rückt. Die Nutzer:innen selbst, mitsamt ihren Anforderungen und Bedürfnissen, werden so mit einem starken Fokus auf Unfähigkeiten charakterisiert und betrachtet.

Ein Designansatz, der eben diese defizitfokussierte Herangehensweise zu hinterfragen versucht, ist „Ability-Based Design“ (auf deutsch: „fähigkeitsfokussiertes Design“) – ein vom amerikanischen Forscher Jacob Wobbrock definiertes Konzept, das die Ausrichtung von Systemen auf die Fähigkeiten, Stärken und Handlungsmöglichkeiten von Nutzer:innen vorschlägt, um Barrierefreiheit zu erreichen. Als solches plädiert der Ansatz lautstark für das soziale Modell von Unfähigkeit und Behinderung, sodass letztere nicht als individuelle Eigenschaften, sondern vielmehr als situative Erfahrungen zu verstehen sind, die von allen Menschen gleichermaßen durchlebt werden können. Diese Erfahrungen entstehen in erster Linie durch falsche Annahmen bei der Gestaltung von digitalen wie analogen Umgebungen. Im Fall von Rollstuhlfahrer:innen, die beispielsweise den höher gelegten Bahnsteig nicht erreichen, weil kein Fahrstuhl vorhanden ist, ist die Behinderung demnach nicht der körperliche Zustand der Betroffenen, sondern eine Erfahrung, die diese durchleben, weil der Bahnsteig mit der Annahme gestaltet wurde, dass alle Personen, die den Bahnsteig nutzen werden, Treppen laufen können. Diese Erfahrung kann somit von allen Menschen durchlebt werden, deren Fähigkeiten dieser Annahme nicht entsprechen, unabhängig von ihrem körperlichen Zustand.

Aus diesem kurzen Teil-Einblick in das Grundgerüst des Konzepts lässt sich bereits die Aufgabe und Verantwortung von Design erkennen: Nämlich die Gestaltung von Systemen und Umgebungen, welche in ihren Fähigkeitsannahmen und –anforderungen den tatsächlichen Fähigkeiten individueller Nutzer:innen entsprechen, sodass keine Diskrepanz entstehen kann.

Kehre ich nun jedoch aus der theoretisch-wissenschaftlichen Perspektive zurück in meinen Berufsalltag als UX Designerin, muss ich mich fragen, ob und wie sich diese Aufgabe überhaupt praktisch realisieren lässt.

Implikation für den Bereich UX Design

Die gesamte Diskussion um Ability-Based Design befindet sich noch immer auf einer stark theoretisch geprägten Ebene der Grundlagenforschung. Obwohl das Konzept in der Wissenschaft bereits seit 2011 bekannt ist, mangelt es noch insbesondere an fundierten praktischen Methoden, mithilfe derer sich die Grundideen des Konzepts realisieren lassen. Durch meine Auseinandersetzung mit dem Konzept auf theoretischer Ebene und meinen praktischen Erfahrungen im UX Design kann ich dennoch inzwischen eine Reihe an Erfahrungen und „Lessons Learned“ ableiten, mittels derer ich bereits zu einer stärkeren Fähigkeitsfokussierung beitragen kann.

Die eigenen Annahmen hinterfragen

Ob im Austausch mit der Zielgruppe oder durch Reflexion und Introspektive – als Designer:innen und Entwickler:innen sollten wir unsere Annahmen über Nutzende kontinuierlich und bewusst hinterfragen:

  • Wo treffen wir eigentlich überall Annahmen?
  • Von welchen körperlichen oder geistigen Fähigkeiten gehen wir in welchen Situationen aus?
  • Auf welchem Wissen bauen wir diese Annahmen auf?
  • Und welche Faktoren oder Vorteile beeinflussen uns gegebenenfalls darin?

Nur, indem ich mir selbst diese Fragen gestellt habe, wurde mir bewusst, welche zentrale Rolle das Treffen von Annahmen in meinem privaten und beruflichen Leben tatsächlich spielt und in wie vielen Situationen ich nicht nach den Fähigkeiten meiner Mitmenschen frage, sondern sie schlichtweg ungefragt annehme. Ob in der Kommunikation mit Gehörlosen, dem Austausch mit älteren Nutzer:innen oder den zahlreichen alltäglichen Begegnungen mit verschiedensten Menschen auf offener Straße.

Indem ich dies als Erfahrungspunkt und Learning darstelle, geht es mir nicht darum, zu behaupten, dass wir uns vollständig von Annahmen lösen sollten – schließlich ist es auch die Fähigkeit, Annahmen zu treffen, die zur Qualität von starken Designs beitragen kann. Allerdings sollten wir hierbei reflektiert vorgehen und die Quelle der Annahme nicht aus den Augen verlieren: unsere eigene Wahrnehmung der Welt.

Modularität von Systemen hinterfragen

Geht es um Barrierefreiheit bei der Gestaltung von Systemen, sind es meist Vorschläge zur Individualisierbarkeit mittels Profilen und manuellen Einstellungen, die in erster Linie diskutiert werden. Stürzen wir uns als Designer:innen und Entwickler:innen jedoch zu sehr auf solche Funktionen und Möglichkeiten, erzeugen wir trotz gutem Willen möglicherweise nicht den erwünschten Benefit, sondern eine zusätzliche Belastung für Nutzende. Denn diese müssen sich nun auch noch mit Fragen der manuellen Konfiguration auseinandersetzen. Adaptivitäts- und Adaptierbarkeitsfunktionen sollten daher stets in ihrer Ausrichtung hinterfragt werden, sodass ihr hohes Potential auch wirklich zum Tragen kommen kann.

Bestehende Analysemethoden hinterfragen

Nicht alle aktuell bewährten Methoden zur Analyse von Nutzer:innen eignen sich für einen fähigkeitsfokussierten Designprozess. Je nachdem, welche Aufgaben ich als Nutzende:r verfolge oder in welchem Kontext ich mich bewege, verfüge ich womöglich über unterschiedliche Fähigkeiten. Bestehende Methoden, wie beispielsweise Personas, tendieren jedoch oft dazu, ein eher statisches Bild der Zielgruppe zu zeichnen, das eben diese Dynamik und Variabilität von Fähigkeiten nur schlecht abbildet.

Entscheiden wir uns für ein fähigkeitsfokussiertes Vorgehen, sollten Methoden daher hinsichtlich ihrer Eignung hinterfragt und bei Bedarf aktiv angepasst und womöglich sogar neu definiert werden.

Nutzer:innen einbinden

Die wohl offensichtlichste Konsequenz und Forderung, die sich aus Ability-Based Design ableiten lässt, liegt darin, verschieden-fähige Nutzer:innen aus unterschiedlichen, wenn nicht sogar allen Zielgruppen einzubinden, sie zu befragen und ihnen eine Stimme im Design- und Entwicklungsprozess zu verleihen. Diese Anforderung bildet die Grundlage für alle weiteren Schritte des fähigkeitsfokussierten Designs und bietet als solche die höchste Wahrscheinlichkeit, aktuell verbreitete sowie zukünftige Fehlannahmen über Fähigkeiten unserer Mitmenschen zu identifizieren, zu diskutieren und zu umgehen bzw. beheben.

Fazit

Mit Ability-Based Design als Ansatz sind bereits viele Grundlagen für ein Umdenken in der barrierefreien Gestaltung von digitalen wie analogen Umgebungen vorhanden. Denn obwohl es noch an methodischen Vorgaben zur praktischen Umsetzbarkeit zu mangeln scheint, bietet der Ansatz ein großes Potential, Dinge und Perspektiven zu verändern – das Potential muss nur wahr- und angenommen werden.

Ich persönlich habe durch meine Auseinandersetzung mit der Thematik von Fähigkeiten und Unfähigkeiten gemerkt, wie viele Annahmen ich beinahe schon selbstverständlich treffe und wie viel aufmerksamer ich durch das Hinterfragen meiner eigenen Sichtweise nun die Welt betrachte. Auf diese Weise kann jede:r einen Beitrag leisten, indem die eigene Annahmenwelt hinterfragt und von Zeit zu Zeit auch mal ein anderer, neuartiger Blickwinkel eingenommen wird.