Kognitive Barrieren und Gebrauchstauglichkeit

Wenn es eine Einschätzung gibt, die sowohl die meisten Forscher:innen als auch die meisten Praktiker:innen im Themenfeld User Experience (UX) teilen, so ist es unsere subjektive Erfahrung, dass Menschen sehr unterschiedlich sind. Wenn wir Schubladen nutzen möchten, um all die Menschen in unserem Umfeld einzusortieren, dann bräuchten wir genauso viele Schubladen wie es Menschen gibt.

Doch auch in der Diversität verstehenden und umarmenden UX Community gibt es einen blinden Fleck: Auf der einen Seite gibt es die Gebrauchstauglichkeit; dort machen wir Software für Menschen ohne Behinderungen effektiv, effizient und zufriedenstellend nutzbar. Und auf der anderen Seite gibt es die Barrierefreiheit, dort verfolgen wir die gleichen Ziele für Menschen mit Behinderungen. Pragmatisch könnte man sagen: Alles bestens, die UX Professionals denken an alle Gruppen von Nutzer:innen. In der Praxis beobachten wir jedoch, dass durch diese Differenzierung – insbesondere bei der häufig etwas kostensensibleren öffentlichen Hand – gefährliche Tendenzen entstehen können: Denn da das Gesamtbudget beschränkt ist, treten diese Maßnahmen plötzlich in einen problematischen Wettstreit. Die Frage, wieviel Maßnahmen zur Barrierefreiheit im Vergleich zu Maßnahmen der Gebrauchstauglichkeit kosten dürfen lässt sich weder unter ethischen, noch unter rechtlichen oder wirtschaftlichen Aspekten hinreichend zufriedenstellend beantworten. Besonders deutlich werden die Herausforderungen, wenn wir uns bei unseren Betrachtungen nicht nur auf physische Barrieren beschränken.

Dominanz des Physischen

Die meisten UX Expert:innen kennen das Phänomen: Wir diskutieren tendenziell zu intensiv über den sichtbaren Teil der User Experience während der unsichtbare Teil der UX häufig in den Diskussionen unterrepräsentiert ist; bei den Ansätzen für barrierefreie Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) lässt sich dieser Effekt ebenfalls beobachten: Auch diese Ansätze haben die Tendenz zu einer Überbetonung des Physischen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Beschreibung von Behinderungen auf medizinischen Phänomenen basiert, und auch die Medizin als Disziplin einen starken Schwerpunkt auf das Physische legt. Dementsprechend spielen psychische und kognitive Fähigkeiten im gegenwärtigen Diskurs nur eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Wenngleich psychische und seelische Erkrankungen inzwischen als Behinderung betrachtet werden (http://www.gesetze-im-internet.de/versmedv/VersMedV.pdf), so spielen diese aktuell beispielsweise bei der heuristischen Prüfung der Barrierefreiheit eine vergleichsweise geringe Rolle.

Kognitive Barrieren

Es gibt aus unserer Sicht jedoch gerade in dem Bereich der kognitiven Barrieren eine besonders enge Verzahnung zwischen Hürden, die die Gebrauchstauglichkeit betreffen und zwischen Hürden, die die Barrierefreiheit betreffen. Kognitive Barrieren lassen sich dabei in Bezug auf die zeitliche Dimension grob in drei Kategorien untergliedern: Es gibt kognitive Barrieren mit hoher zeitlicher Konstanz, mit mittlerer zeitlicher Konstanz und mit niedriger zeitlicher Konstanz.

Beispielsweise das Alter und die damit verbundenen kognitiven Möglichkeiten und Einschränkungen sind von hoher zeitlicher Konstanz. Auch die Sozialisierung (z.B. Kultur, Gender, Geografie, Familie und Sprache) gehören zu dieser Kategorie. Die (formale) Bildung verändert sich im Laufe des Lebens, aber naturgemäß ebenfalls in einem graduellen Prozess. Der Grad der Behinderung (0 – 100) und die damit verbundenen permanenten Einschränkungen sind nicht unveränderlich, aber konstant. Kognitive Barrieren von mittlerer zeitlicher Konstanz haben Ihre Ursachen beispielsweise in der Einnahme von Psychopharmaka oder anderen Medikamenten. Auch psychische Traumata gehören in diese Kategorie, ebenso wie kognitive Einschränkungen aufgrund physischer Verletzungen und Erkrankungen. Demgegenüber stehen Ursachen von niedriger zeitlicher Konstanz, die kurzfristig auftreten und genauso schnell wieder verschwinden. Die zwei wichtigsten Ursachen in dieser Kategorie sind eine akute psychische Belastung und mentale, situative Ablenkungen. Beide Ursachen können dabei sowohl intern als auch extern getriggert werden.

Methodischer Ansatz

Einer passenden Methodik muss es nun gelingen, diese verschiedenen Facetten in Einklang zu bringen. Das bedeutet in der Praxis, dass das Grundprinzip „Focus on the extremes“ (https://www.designkit.org/methods/45) entsprechend operationalisiert werden muss. Dabei kann das von uns im Kontext der sicherheitskritischen Mensch-Computer-Interaktion diskutierte Konzept der „Blume“ (https://www.springer.com/gp/book/9783658327941) auf andere Domänen übertragen werden. Dieses Konzept für ein diversitätssensibles User Research setzt sich insbesondere mit der Frage auseinander, unter welchen Rahmenbedingungen ein Usability-Test mit fünf Nutzer:innen als zielführend betrachtet werden kann. Denn der praktische Erfolg der Empfehlung von Nielsen (https://www.nngroup.com/articles/why-you-only-need-to-test-with-5-users/) basiert bekanntlich auf einer Gleichwertigkeit der Probleme und auf einer homogenen Gruppe von Nutzenden.

Es kann dabei keine in der Praxis tragfähige Lösung sein, im Zuge einer stärkeren Sensitivität für kognitive Barrieren die Zahl der Nutzer:innen signifikant zu verändern. Als zentrale Stellgröße kann daher nur die Auswahl der im Rahmen der Usability-Tests heran gezogenen Nutzer:innen verwendet werden. Genau das liefert das Konzept der Blume: Es macht im ersten Schritt die gegenwärtige und bisherige Diversität der Teilnehmer:innen an Usability-Tests sichtbar und ermöglicht in einem zweiten Schritt auf Basis dieser Informationen eine Steigerung von deren Diversität.

Eine Herausforderung ist dabei, die passenden Dimensionen für die Blume auszuwählen. Wenn wir mit den „klassischen Dimensionen“ der Barrieren aus der DIN EN 301549 starten (beispielsweise Nutzung ohne / mit eingeschränktem Sehvermögen, Nutzung ohne Farbwahrnehmung, Nutzung ohne / mit eingeschränktem Hörvermögen, Nutzung ohne Sprachvermögen, Nutzung mit eingeschränkter Handhabung / Kraft, Nutzung mit eingeschränkter Reichweite, Nutzung mit Photosensibilität, Nutzung mit kognitiven Einschränkungen) so wird bereits deutlich, dass die meisten dieser Dimensionen ein Kontinuum sind.

Beschreibung Abbildung 1 im Text
Abbildung 1: Im Zentrum der Blume finden sich die hypothetischen Durchschnittsnutzer:innen, die nicht spezifisch berücksichtigt werden müssen; auf die Achsen werden die einzelnen Aspekte der DIN EN 301549 übertragen.

 

Beschreibung Abbildung 2 im Text
Abbildung 2: In der Praxis lassen sich die Einschränkungen aller Proband:innen visualisieren; dadurch wird deutlich, welche Bereiche (nicht) abgedeckt sind – diese Information lässt sich dann für das Recruiting von weiteren Proband:innen nutzen.

Sobald eine Vielzahl dieser Kontinuen identifiziert wurde, können diese entsprechend kombiniert werden. Im Zentrum der Blume finden sich die hypothetischen Durchschnittsnutzer:innen, alle anderen lassen sich wie dargestellt durch ein Spider-Web visualisieren. Dazu erfolgt eine entsprechende Einordnung anhand von allen im jeweiligen Nutzungskontext relevanten Dimensionen – in der beispielhaften Darstellung (Abbildung 1) sind 8 Dimensionen (siehe hierzu die DIN EN 301549) aufgeführt, die sich je nach Projekt natürlich unterscheiden können. Nun lassen sich (siehe Abbildung 2) reale Nutzer*innen auf diesen einzelnen Skalen einzeichnen und so durch die Überlagerung erkennen, welche Dimensionen in einem Test abgedeckt sind. Auch macht diese vergleichsweise einfach durchzuführende Auswertung deutlich, wo die aktuellen „Blind-Spots“ bei der Auswahl von Nutzer:innen liegen. Besonders aufschlussreich ist dabei eine Betrachtung der gesamten Testhistorie – je nach Zahl der Dimensionen ist für einzelne Testiterationen eine Berücksichtigung aller Dimensionen gar nicht möglich. Werden hingegen die Extrema einiger Achsen überhaupt nicht abgedeckt, wird augenscheinlich, dass an dieser Stelle nicht nur ein Teil der Probleme, sondern auch ein Teil der Nutzer:innen bisher ignoriert wurde.

Das UX-Team kann auf Basis dieser Visualisierungen direkt nachsteuern und den bis dato vernachlässigten Dimensionen bei der zukünftigen Auswahl von Proband:innen eine stärkere Aufmerksamkeit schenken. In der Praxis sind für die erfolgreiche Verbesserung der Diversitätssensitivität damit zwei Aspekte erforderlich: Einerseits müssen zunächst alle potentiell relevanten Dimensionen identifiziert werden und andererseits müssen diese bei dem Screening der Teilnehmer:innen berücksichtigt und entsprechend dokumentiert werden (https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/0020737389900205).

Diskussion

Die Blume ist zunächst als ein Ansatz gedacht, der eine Sensibilität für kognitive Barrieren im Besonderen und das Thema Inklusion und Diversität im Allgemeinen schafft – indem er bisherige Ungleichheiten sichtbar macht. Dieses Sichtbarmachen ist zentrale Grundlage für die Ableitung von konkreten Handlungsimplikationen. Nur dem erkannten Problem kann mit entsprechenden Ansätzen entgegengewirkt werden.

Dabei basiert der vorgestellte Ansatz der Fokussierung auf die Extrema auf zwei Hypothesen: Diese Fokussierung nimmt erstens die besonders stark vernachlässigten Gruppen stärker in den Blick und auch weniger starke Ausprägungen der einzelnen Dimensionen profitieren gleichermaßen. Nun gibt es jedoch Dimensionen, bei denen auf jeden Fall beide Extrema relevant sind (z.B. jung vs. alt) und gleichzeitig auch Dimensionen, bei denen auch Abstufungen von Bedeutung sind (z.B. die verschiedenen Ausprägungen des eingeschränkten Sehvermögens). Die Blume ist damit kein Ersatz für die bisherigen Standards und Ansätze für barrierefreie IKT, sie ist vielmehr eine wichtige Ergänzung. Gegenwärtig spielen Heuristiken (beispielsweise WCAG 2.1) im Themenfeld eine überproportional große Rolle – die Blume bietet nun die Chance, gemäß der Prinzipien der DIN EN ISO 9241 auch bei dem Thema Barrierefreiheit den Blick der Expert:innen stets durch Tests mit Nutzer:innen zu komplettieren; denn am Ende ist nicht diejenige Software barrierefrei, die bestimmte Heuristiken erfüllt, sondern nur diejenige Software, die sich durch Menschen mit Barrieren in der Praxis effektiv, effizient und zufriedenstellend bedienen lässt. Dieser Effekt lässt sich durch die skizzierte methodische Verknüpfung von Ansätzen der Gebrauchstauglichkeit und Ansätzen der Barrierefreiheit erreichen.