Psychische Belastungsstörungen und Internetnutzung – Bitte mehr Struktur!

Ein Interview mit Kerstin und Christine – genesen und akut betroffen von einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)

PTBS zählt zu den sogenannten kognitiven Behinderungen. Sie ist – anders als zum Beispiel Autismus oder Legasthenie – eine psychische Erkrankung und nicht eine Veranlagung aufgrund einer anderen Hirnstruktur. Die Symptome können hingegen ähnlich sein. Typisch für PTBS sind u.a. erhebliche Konzentrationsschwierigkeiten, Depression, Angstzustände, Nervosität, Gedächtnisstörungen, Müdigkeit, Erschöpfung, das Gefühl unter Druck gesetzt zu werden, verminderte Belastbarkeit und allgemeine Antriebsschwäche.

Einleitung vom Interviewer: Hallo Kerstin und Christine, schön dass ihr euch bereit erklärt habt, mit mir dieses Interview zu führen.

Wie habt ihr denn das Internet während eurer posttraumatischen Belastungsstörung genutzt?

Kerstin: Also ich habe es auch vorher schon hauptsächlich beruflich genutzt. Ich war zu der Zeit in der Firmenleitung und habe im Web unter anderem Reisen und Events auf Messen gebucht, recherchiert und natürlich auch Firmensoftware bedient.

Welche Probleme hattet und habt ihr durch eure Krankheit mit der Internetnutzung?

Kerstin: Anfangs hatte ich immer öfter Konzentrationsschwierigkeiten, manchmal konnte ich nicht mal mehr verstehen, was ich gelesen habe – also ich habe die Worte gelesen, aber sie sind nicht in meinem Verstand angekommen. Das Schlimmste aus meiner Sicht war, dass Websites oft so unstrukturiert und durcheinander waren. Kleine, schlecht lesbare Schriften erschweren dann die Konzentration noch zusätzlich. In einer Situation, in der man sich sowieso schon schlecht konzentrieren kann, verursacht das dann noch zusätzlich Stress. 

Christine: es ist einfach kompliziert. Bevor man etwas gefunden hat, vergeht einfach viel zu viel Zeit. Das Internet macht mir Druck. Es macht mich agressiv, weil ich oft viel komplizierte Formulare ausfüllen muss und dann am Ende eine Fehlermeldung bekomme, die ich nicht verstehe.

Kerstin Es heisst ja immer öfter: Machen sie das einfach Online. Aber es ist eben nicht einfach. Gerade wenn man sich schwer konzentrieren kann.

Da fällt mir ein, nutzt ihr eigentlich Online Banking?

Christine. Oh nein auf gar keinen Fall. Ich probiere es manchmal mit den Automaten, die in den Selbstbedienungsfilialen stehen, aber auch da verzweifel ich oft und dann warte ich lieber, bis die Filiale wieder geöffnet hat und gehe zum Schalter, wenn ich etwas überweisen will. Aber Online Banking – nein – da hätte ich viel zu viel Angst, dass ich einen Fehler mache. Ich steigere mich da total rein und bekomme Panik bis hin zu Ohrensausen. Ich würde dann nie wichtige Geldangelegenheiten erledigen.

Kerstin: Also ich mache ganz gerne Online Banking. Schwierig wird es dann aber auch bei mir, wenn sich Gewohnheiten ändern – wenn zum Beispiel ein neues Sicherheitsverfahren eingeführt wird. Das fordert uns dann extrem viel mehr, als vielleicht andere.

Was wäre denn für euch eine ideal strukturierte Website?

Kerstin: Für mich bedeutet das vor allem, dass die Basisinformation, also die Kontaktmöglichkeiten wie Telefonnummer, Adresse und die Ansprechpartner immer deutlich sichtbar am Anfang einer Seite stehen und nicht irgendwo versteckt oder mittendrin. Eigentlich ist es doch das, was die meisten Menschen auf Websites suchen. 

Habt ihr bestimmte Strategien entwickelt, wie ihr mit schwierigen Situationen umgegangen seid?

Kerstin: Ich bin tatsächlich oft einfach auf die letzte Seite gegangen um dort nach den Kontaktdaten der Firma zu suchen …

Zwischenfrage des Interviewers: Was meinst du mit „letzte Seite“?

Kerstin: … also die Seite, die „Kontakt“ oder „Impressum“ heißt. Dort habe ich dann wenigstens einige der wichtigsten Informationen gefunden – obwohl dort dann meistens die Ansprechpartner fehlten. Wenn gar nichts mehr ging, musste ich mir dann Hilfe bei Kollegen holen.

Christine: Was so richtig gut funktioniert, ist die Spracheingabe. Ich sage einfach, ich will zu dieser Straße und dann kommt die Antwort. Ich tippe nicht gerne Sachen ein. Auch wenn ich für meine Klienten zum Beispiel nach Nebenwirkungen von Medikamenten suche, dann spreche ich mit meinem Handy ( gemeint sind Voice-Assistenten wie Alexa, Siri, Google Bot usw.) und bekomme die Antworten angezeigt. Das geht schnell. 

Kerstin Bei städtischen Seiten oder im Gesundheitsbereich würde ich mir viel mehr Struktur auf den Seiten wünschen. Ich möchte gerne „vorne“ auf der Seite schon die Information haben, dass zum Beispiel eine Arztpraxis im Moment ausgebucht ist oder Termine frei hat. Denn gerade psychisch erkrankte Menschen schaffen es einfach nicht, sich diese Information mühsam an verschiedenen Stellen zusammen suchen zu müssen. Das stresst dich doch auch, Christine, oder?

Christine: Ja sehr. Ich gehe daher schon gar nicht mehr ins Internet. Es ist zu stressig und braucht zu viel Kraft. Mich saugt das regelrecht leer und danach muss ich mich erst mal ins Bett legen.

Kerstin: also das ging mir auch so. Ich vermeide es sogar immer noch, obwohl ich nicht mehr akut erkrankt bin. Lieber rufe ich dann jemand an, als es Online zu probieren. Wenn ich von anderen höre, dass sie Reisen und Events Online buchen, dann denke ich immer, ja macht ihr mal. Da gehe ich lieber ins Reisebüro und zahle mehr. Es ist schon eine Vermeidungsstrategie.

Wie müsste das Internet aussehen, dass ihr gerne nutzt?

Christine: Ja wie ein Kochbuch. Ich suche das Rezept im Inhaltsverzeichnis und dann gehe ich zu dem Kapitel und finde das Rezept. Das gehe ich dann nach und nach durch. Der Reihe nach und strukturiert.

Kerstin: Genau Struktur ist so wichtig! In kleinen Schritten und Stück für Stück durch etwas durchgeführt zu werden, dass würde mich dann nicht so stressen. Ich kenne auch viele Menschen die keine kognitiven Störungen haben und die sind ähnlich überfordert.

Wie sind denn eure Erfahrungen mit Internet-Shops?Christine: Das ist für mich Reizüberflutung. Ich kann das nicht. Auch da vermeide ich es und gehe lieber in die Boutique. 

Kerstin: Ich mache das auch gar nicht. 

Warum sind gerade Menschen mit PTBS besonders gefordert, wenn sie das Internet nutzen?

Kerstin: Weil sie es müssen. Dabei kostet die Krankheit alleine schon soviel Kraft. Und dann sollen sie sich auch noch um Ärzte und Kliniken kümmern, Therapeuten finden und sogar Formulare ausfüllen. 

Christine Ich glaube das Problem wird massiv unterschätzt. Bei uns ist die Störung ja diagnostiziert worden. Aber es gibt sicher eine ganz große Dunkelziffer. Und die werden alle das Internet meiden. Sie werden auch nach der Krankheit weiter die schlechte Erinnerung an diese Erfahrungen mit dem Netz verbinden und die Nutzung auf ein Minimum reduzieren. Die Menschen sind mit der ganzen Digitalisierung meiner Meinung nach komplett überfordert. Das endet dann immer öfter im Burnout. Das Internet muss sich nach uns richten und nicht wir nach ihm.

Das war doch ein gutes Schlusswort. Ich danke euch für eure Zeit und eure ehrlichen Antworten.