Oder: Wie jeder von uns zur einer a11y-Persona werden kann
*Dieser Artikel ist auch auf Englisch verfügbar.
In diesem Artikel werde ich ein Konzept aus dem Design Thinking verwenden – die Idee des Designs anhand der Extremfälle – und argumentieren, dass ein solches Design für „extreme“ Benutzer als ein Fall von barrierefreiem Design verstanden werden kann.
Ich beginne mit Piloten (wir alle mögen Piloten, oder?), um kurz zu zeigen, wie man Zugänglichkeit in Personas und den Fall inklusiver Personas integriert. Dann werde ich mich mit dem Design anhand der Extremfälle befassen, wobei ich mich zunächst auf einen einzigen Aspekt konzentriere, kurz bevor ich euch einige Persona-Stories vorstelle.
Einen durchschnittlichen Pilot gibt es nicht
(Oder: Es gibt keinen durchschnittlichen Benutzer)
In den 1940er Jahren verlor die U.S. Air Force viele Piloten durch Abstürze. Nachdem man viele mögliche Gründe untersucht hatte, landete man, wie das bei guten Piloten so ist, beim Cockpit-Design: die Maße der Cockpits waren für den „durchschnittlichen“ Piloten aus dem Jahr 1926 konzipiert worden.Die Air Force begann ein neues Forschungsprojekt zur Feinabstimmung dieser Maße. Lt. Gilbert S. Daniels, ein Mitglied des Teams, untersuchte die 10 physischen Dimensionen, von denen man annahm, dass sie für das Design am relevantesten waren, und fand heraus, bei wie vielen der 4.063 Piloten die Körpermaße in allen zehn Dimensionen den festgelegten Standards entsprachen. Möchtest du schätzen, bei wie vielen das der Fall war? Ich meine, wir reden hier über die Armee, man muss eine bestimmte Körpergröße und ein bestimmtes Gewicht haben, um überhaupt eintreten zu dürfen, wie schwierig kann das sein?
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TROMMELWIRBEL…
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Wenn du NULL getippt hast, hast du Recht! Keiner der 4.063 Piloten entsprach in allen zehn Dimensionen den durchschnittlichen Maßen. Nicht.ein.einziger.
Lt. Daniels gab dem Ganzen noch eine zweite Chance… was wäre, wenn man nur die drei wichtigsten Dimensionen auswählen würde? Willst du nochmal einen Tipp abgeben?
(Sorry, diesmal gibt es keinen Trommelwirbel.)
Bei einer Beschränkung auf die wichtigsten drei Dimensionen war die Übereinstimmung immer noch weniger als 3,5%.
Die Daten waren eindeutig: einen durchschnittlichen Pilot GAB ES NICHT.
Ein Design für einen durchschnittlichen Piloten war ein Design für NIEMANDEN.
Die Air Force musste auf die harte Tour lernen, dass jedes System, das für einen Durchschnittsmenschen entworfen wird, zum Scheitern verurteilt ist.
Daher machte sich die Air Force in der Folge ein neues Leitprinzip zu eigen: die individuelle Anpassung. Die Anpassung des Systems an den einzelnen Piloten, nicht umgekehrt.
Versuche doch jetzt mal, diese Idee einer individuellen Anpassung deinen Kunden zu verkaufen…
Als die Generäle diese Idee einer individuellen Anpassung vorbrachten, wurde sie von den Herstellern aus Kostengründen abgelehnt. Kannst du dir das Gespräch vorstellen?
„Komm schon! Spinnt ihr? Wollt ihr wirklich, dass wir individuelle Lösungen für jeden eurer Piloten entwerfen? Seid ihr verrückt? Das sind mehr als 4000 individuelle Lösungen! Nur in diesem Jahr! Werdet ihr uns dann jedes Mal nach neuen Lösungen fragen, wenn neue Menschen dazukommen??!!“
Allerdings reden wir hier nicht über deine oder meine Firma, sondern über die US Air Force… Da steckt das große Geld drin! Als das Militär nicht nachgab, entwickelten die Ingenieure letzendlich billige und leicht umzusetzende Vorschläge… Wer hätte das gedacht?!… Verstellbare Sitze, verstellbare Fußpedale, verstellbare Helmgurte… einige davon sind bis heute der Standard in anderen Branchen. Du kennst bestimmt mehr als eine davon, richtig?
Wenn diese Geschichte dein Interesse geweckt hat, kannst du in Todd Roses Buch The End of Average und in Matthew Syeds Rebel Ideas: The Power of Various Thinking nachlesen.
Sich auf die Vorlieben fokussieren
Um Barrierefreiheit in Personas zu integrieren, würden man sich typischerweise auf verschiedene Bereiche wie Domäne, Fähigkeiten oder technische Hilfsmittel konzentrieren. Aber heute entwerfen wir keine Accessibility Personas, die sich auf etablierte Gruppen oder Kategorien konzentrieren.
Wir werden uns auf Eigenschaften und Vorlieben konzentrieren. Auf Dinge wie eine flexible Präsentation, unterschiedliche Geräte, die Vielfalt der Eingabemethoden, Mehrsprachigkeit, und den Gebrauch von Geräten während man abgelenkt wird… Wir behalten assistive Technologien und Abilities aber im Auge, wir vergessen hier niemanden!
Aber lass uns erst einmal einen Schritt zurücktreten
Microsofts Inclusive Design Toolkit konzentriert sich beispielsweise auf Abilities und gruppiert das Spektrum der Personas in permanente, temporäre und situative Szenarien. Ich werde später darauf zurückkommen.
Das Design für die Extremefälle (Designing for the extremes) gehört zur Design Thinking-Methodik, die an der D.School in Stanford und bei Ideo verwendet wird. Es ist Teil der Empathize– oder Inspiration-Phase.
Manchmal schränken wir uns ein durch einen Fokus auf die durchschnittlichen Optionen ein, obwohl es links und rechts eine große Zahl an anderen Möglichkeiten geben würde.
Das hier ist zum Beispiel die Extreme Users-Karte des Stanford D.School Bootleg-Decks. Mehr dazu findest du auch im Ideo.org Design Kit.
Ich liebe die Tatsache, dass diese Karte uns alle daran erinnert, dass Benutzer Menschen sind (!). Ich möchte deine Aufmerksamkeit auch auf die Extremfälle lenken: auf „extreme Nutzer“, die besondere Workarounds entwickelt haben, deren Analyse sinnvolle Bedürfnisse ans Licht bringen kann, die auch alle anderen betreffen. Hier findet Innovation statt!
Ein Netz von Geräten
Wenn wir in unseren Design normalerweise die unglaubliche Vielfalt existierender Geräte und verschiedener Betriebssysteme berücksichtigen, wie können wir es dann rechtfertigen, dass wir unsere Produkte für das vernetzte Auto, die Videospielkonsole oder sogar den Kühlschrank entwerfen, aber nicht für assistive Technologien? Im Jahr 2030 wird es wahrscheinlich 50 Milliarden IoT angeschlossene Geräte¹ geben, aber werden wir in einer Welt leben, die uns überall unterstützende Technologien anbietet?
Stell dir mal vor…
Stellen wir uns zum Beispiel mal vor, wer alles Untertitel nutzen könnte… Vielleicht hat jemand seine Kopfhörer zu Hause vergessen und möchte im Bus ein Video anzuschauen, ohne dass alle mithören müssen. Vielleicht ist dein Baby gerade eingeschlafen und du willst es nicht aufwecken, also schaust du deine Lieblingsserie mit Untertiteln. Vielleicht schaust du gerne japanische Filme, aber du sprichst nur Koreanisch.
Kommt dir bekannt vor? Ich wusste, dass ich mit japanischen Filmen deine Interesse wecke!
Bereit? Wir fangen an.
Sarah
„Sarah ist eine Freiberuflerin, die gerne im Freien arbeitet, daher kämpft sie normalerweise mit dem direkten auf ihren Displays. Sie verwendet Technik der neuesten Generation, aber eine funktionierende Internetverbindung ist nicht garantiert.“
Arbeiten wir nun an ihren Präferenzen, überprüfen ihre Einschränkungen und gehen auf Berührungspunkte mit Accessibility ein:
Sie braucht Optionen für hohen Kontrast, die ihr beim Lesen und Arbeiten helfen, wenn die Sonne auf ihren Bildschirm schein, vielleicht auch eine Zoom-Funktion, wenn sie an einem sehr sonnigen Ort ist. Sie arbeitet im Freien, daher könnte es laut werden. Sie braucht deshalb eine Alternative zu Audio und wahrscheinlich Untertitel für Videos. Die Möglichkeit, offline und in ihrem eigenen Tempo und ohne Timer zu arbeiten, vielleicht sogar eine Save-for-Later Option, wären eine große Hilfe, die ihr bei Problemen mit ihrer Internetverbindung helfen würde. Und schnelle Webseiten mit hoher Performance würden ihr auch nicht schaden.
Die Konnektivität wäre ihr größtes technologisches Hindernis, als Freiberuflerin könnte sie Phasen weniger Aufträge und finanzielle Probleme oder Zwänge haben. Und wir könnten sagen, dass Sarah hat Berührungspunkte mit Seh- und Hörbehinderungen aufweist.
Michael
Das Extreme in uns allen hervorheben
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir als Designer*innen die Verantwortung haben, jede*n in unseren Designprozess einzubeziehen. Selbst wenn es Vorbehalte in Bezug auf Accessibility gibt (und meistens gibt es sie), können wir uns auf andere Aspekte konzentrieren, die unsere Benutzer mit Zugänglichkeit abdecken.
Wenn wir Personas (oder Proto-Personas) für unsere Projekte kreieren, können wir uns auf geschäftliche Aspekte konzentrieren statt auf die „Accessibility“. Im Zweifel kannst du diesem Schema folgen:
- beschäftigte oder gestresste Person <> kognitive Beeinträchtigung
- Autofahren <> motorische + kognitive + Sehbehinderung
- Fremdsprache <> Sprachstörung
- Laute Umgebung <> schwerhörig
Wenn du (je nach Branche) weitere Beispiele brauchst:
- Einkaufstaschen / Halten eines Babys <> Motorische Beeinträchtigung
- Schwerer Koffer auf Rädern <> motorische Beeinträchtigung / Rollstuhl
Auch wenn ich es vorher nicht erwähnt habe: Vergiss nicht, auch weitere Dimensionen von diversity in deine Planung einzubeziehen. Versuche zu vermeiden, nur Produkte für weiße, cis, lokale, städtische und abled Mittelschichtsmänner zu entwerfen, auch wenn in deinem Team oft noch viele davon sind. Trau dich an die Extreme!
Quellen
[1] Strategy Analytics. (May 16, 2019). Number of internet of things (IoT) connected devices worldwide in 2018, 2025 and 2030 (in billions) [Graph]. In Statista. Abgerufen am 29. April 2020, unter https://www-statista-com.ezproxy.stadt-koeln.de/statistics/802690/worldwide-connected-devices-by-access-technology/]
Todd Rose: The End of Average: How We Succeed in a World That Values Sameness [Das Ende des Durchschnitts] (New York: HarperOne, 2016).
Matthew Syed: Rebel Ideas: The Power of Diverse Thinking [Rebellen-Ideen: die Kraft des vielfältigen Denkens] (London: John Murray, 2019).
Bootleg-Karten der Stanford D.School.
Ideo.org Design Kitt Methoden.
Beatriz González Mellídez ist Licenciada in „Audiovisueller Kommunikation“ (entspricht dem deutschen Diplom) durch die UMA und Experto Universitario in „Accessibility und Usability von Web Inhalten“ durch die UAH.
Sie ist in Madrid geboren, Zertifizierte Fachkraft für Web-und Dokumenten- Barrierefreiheit (CPWA, ADS, CPACC, WAS) und CPUX-UR (User Requirements Engineer). Sie wohnt in Köln und ist verantwortlich für Barrierefreiheit und Digitale Teilhabe in Zentraleuropa bei Atos. Sie leitet der AK Barrierefreiheit der German UPA und ist teil der IAAP DACH Beirat.
Beatriz hat mehrere Jahre Erfahrung als UX Consultant, Training & Coaching in erfolgreichen Projekten in Europa, den USA, Indien und Australien.
Ihre Interessenschwerpunkte sind Inklusive Innovation, UX, Multikulturalität, Digitale Strategie und Best Practices für große Unternehmen.