Nutzergerechte Analyse, Gestaltung und Evaluation von Mobilitätsprodukten für Menschen mit besonderen Bedürfnissen

Ende 2017 lebten rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland, wovon 59 % als körperlich behindert eingestuft wurden. Aufgrund von Beeinträchtigungen der unteren Extremitäten verwendeten rund 1,4 Millionen Menschen in Deutschland einen Rollstuhl. Behinderungen treten vor allem bei älteren Menschen auf. So war circa ein Drittel (34 %) der schwerbehinderten Menschen 75 Jahre und älter. 44 % gehörten der Altersgruppe von 55 bis 74 Jahren an. Der voranschreitende demografische Wandel führt zu hohen Absatzzahlen eines weiteren Mobilitätsproduktes; dem Rollator. So werden aktuell jährlich über 500.000 neue Rollatoren in Deutschland abgesetzt; mit steigender Tendenz (siehe auch: Destatis Pressemitteilung Nr. 228 vom 25. Juni 2018).

Mobilität im Alter

Mobilität im Alter wird sozialwissenschaftlich schon seit langem als einer der Kernaspekte gesellschaftlicher Teilhabe betrachtet. Gut gestaltete und von den Nutzern akzeptierte Mobilitätslösungen wirken somit der Gefahr von Vereinsamung und Isolation entgegen. (siehe  Mollenkopf, Heidrun; Flaschenträger, Pia: Mobilität zur sozialen Teilhabe im Alter. Discussion Paper FS-III 96-401. Berlin : Wissenschaftszentrum, Berlin 1996)

Menschen, die aufgrund von körperlichen Einschränkungen auf diverse Hilfsmittel und Assistenzsysteme angewiesen sind, stellen besondere Anforderungen an Mobilitätsprodukte und deren Mensch-Maschine-Schnittstellen hinsichtlich Ergonomie, Usability und User Experience. Diese gilt es im Zuge der nutzerzentrierten Technikgestaltung zu identifizieren, umzusetzen und schließlich zu evaluieren.

Nutzerzentrierte Entwicklung von Mobilitätsprodukten

Definition relevanter Nutzungsanforderungen

Zu Beginn des iterativen, nutzerzentrierten Entwicklungsprozesses steht stets die Erfassung relevanter Nutzungsanforderungen. Die DIN-Fachberichte 124 und 131 liefern Ansätze zur Anforderungsdefinition, basierend auf den nutzerbezogenen Fähigkeiten eingeschränkter Menschen hinsichtlich Sensorik, Motorik und Kognition sowie den Grundprinzipien der Interaktions- und Dialoggestaltung gemäß DIN EN ISO 9241-110. Spezifische Anforderungen für mobilitätseingeschränkte Personen können dem zweiten Teil der DIN-Reihe „Barrierefreies Leben“ entnommen werden:

  • DIN Fachbericht 124: Gestaltung barrierefreier Produkte, 1. Aufl., Deutsches Institut für Normung e.V., Berlin: Beuth Verlag, 2002.
  • DIN Fachbericht 131: Leitlinien für Normungsgremien zur Berücksichtigung der Bedürfnisse von älteren Menschen und von Menschen mit Behinderungen, 1. Aufl., Deutsches Institut für Normung e.V., Berlin: Beuth Verlag, 2003.
  • DIN EN ISO 9241-110: Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Teil 110: Grundsätze der Dialoggestaltung, Deutsches Institut für Normung e.V., Berlin, 2006.
  • DIN-Taschenbuch 414/2: Barrierefreies Leben 2 – Normen für Kraftfahrzeuge, Dienstleistungen und Hilfsmittel im täglichen Leben, Deutsches Institut für Normung e.V., Berlin: Beuth Verlag, 2015

Besondere Nutzungsanforderungen bestehen bei Mobilitätsprodukten etwa hinsichtlich der sicheren, komfortablen und zuverlässigen Regulierung der Geschwindigkeit, dem Bremsvorgang, dem Ein- und Ausstiegsvorgang sowie in Bezug auf die komfortable Be- und Entladung.

Aufgrund des breiten Spektrums menschlicher Einschränkungen kann der Einfluss auf die Interaktion zwischen Mensch und Maschine sehr individuelle Formen annehmen. Somit ist es zu empfehlen bereits die Anforderungsanalyse und -spezifikation durch repräsentative Zielnutzer in Form von fragebogenbasierten Befragungen, Einzelinterviews oder Fokusgruppendiskussionen zu ergänzen.

Umsetzung identifizierter Nutzungsanforderungen

Der darauffolgende Entwicklungsschritt bedingt die Umsetzung der identifizierten Anforderungen. Im Fokus stehen vor allem die Schnittstellen und Interfaces, über die der Nutzer mit dem technischen System interagiert. Abbildung 1 verdeutlicht den technischen Gestaltaufbau eines Mobilitätsproduktes am Beispiel eines elektrifizierten Rollstuhls mit Zuggerät.

Beschreibung eines Rollstuhls mit Zuggerät
Abbildung 1: Technische Gestaltgliederung eines Rollstuhls mit Zuggerät (Quelle: Alber GmbH, modifiziert)

Die Verantwortung hierfür liegt häufig bei jungen, uneingeschränkten Designern, Produktmanagern und Ingenieuren der Entwicklungsabteilungen, die sich nur bedingt in die Interaktionsproblematiken eingeschränkter Nutzer hineinversetzen können. Sowohl psychologische User Research Methoden, wie etwa die seniorenspezifischen Personas des Center for Usability Research & Engineering, als auch physiologische Simulationstechniken, wie der gerontologische Testanzug GERT, welcher aufgrund seiner gelenkversteifenden Wirkung motorische Einschränkungen simuliert, können den Gestaltungsexperten zur Empathiebildung dienen. Anthropometrische Referenztabellen und digitale Menschmodelle können zudem als gestalterisch-quantifizierbare Referenzen bei der Maßkonzeption und Positionierung von Stellteilen und Anzeigen dienen.

Nutzerzentrierte Evaluation

In einer dritten Phase folgt die nutzerzentrierte Evaluation der Mensch-Maschine-Schnittstellen des Mobilitätsproduktes. Essentiell hierbei ist die Integration repräsentativer Zielnutzer in Form von Usability-Tests um die Bedienungseffizienz, -effektivität und -zufriedenheit zu überprüfen. Die Herausforderung besteht hierbei in der Operationalisierung dieser Maßgrößen. Zur adäquaten Datenerhebung bei Mobilitätsprodukten bieten sich passive Feldbeobachtungen an – optional kombinierbar mit der Think Aloud Technik oder begleitenden Videoaufnahmen (vgl. Abbildung 2).

Frau auf einem Rollstuhl mit Zuggerät
Abbildung 2: Videobasierte Feldbeobachtung eines Interaktionsvorgangs zwischen Rollstuhlfahrer und elektrischem Zuggerät (Quelle: USE-Ing. GmbH)