„Ich gebärde, du sprichst“: Ein Plädoyer zur Annäherung zwischen Hörenden und Gehörlosen

In Deutschland leben ca. 80.000 gehörlose Menschen, deren Muttersprache die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist. Für die Mehrheit von ihnen ist Textsprache eine Fremdsprache. Diese zu verwenden und zu verstehen kostet sie mehr Zeit und Anstrengung, als es bei vielen Hörenden der Fall ist. Dieser Umstand ist jedoch einem Großteil der hörenden Gesellschaft nicht annähernd bewusst, sodass nicht nur durch die Textsprache selbst, sondern auch durch das fehlende Bewusstsein der Mitmenschen große Barrieren für Gehörlose entstehen. Auch mir selbst als hörende Person ohne viele Berührungspunkte zur Gehörlosen-Community war lange Zeit nicht bewusst, wie groß deren (digitale) Ausgrenzung tatsächlich ist und wodurch sie überhaupt entsteht. Die Schwierigkeiten, die viele Gehörlose mit Textsprache haben, waren mir unbekannt und folglich auch die Notwendigkeit effizienter und zugänglicher Übersetzungen in Gebärdensprache – insbesondere in der von Text geprägten digitalen Welt.

Übersetzungsvideos mit menschlichen Dolmetscher:innen, die als erster Lösungsansatz von vielen Behörden, Instituten und Unternehmen eingesetzt werden, sind in der Produktion teuer und statisch. Sie enthalten meist nur einen kleinen Teil des eigentlichen Informationsangebots, sodass selbst hier aus beabsichtigter Inklusion erneut Exklusionserfahrungen für Gehörlose resultieren. Vor diesem Hintergrund entstand das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Forschung (BMBF) geförderte Forschungsprojekt AVASAG (Avatarbasierter Sprachassistent zur automatisierten Gebärdenübersetzung). In einem gemischten Konsortium aus Wissenschaft und Industrie beschäftige ich mich hier, gemeinsam mit anderen Forschenden, mit der Entwicklung einer KI-basierten, automatisierten Übersetzung von deutschem Text in Deutsche Gebärdensprache. Auf diese Weise können Inhalte großflächiger, flexibler und schneller übersetzt und somit zugänglich für die Gehörlosen-Community gemacht werden. Während Videos mit menschlichen Dolmetscher:innen im Fall von Änderungen vollständig neu und manuell produziert werden müssten, bietet eine solche Avatartechnologie das Potential, die aktuellen Inhalte sowie Änderungen an diesen direkt zu berücksichtigen und in Gebärdensprache wiederzugeben.

Um sicherzugehen, dass hierbei auch die tatsächlichen Bedürfnisse und Verhaltensweisen der Gehörlosen-Community abgedeckt werden, erfordert eine solche Aufgabe in erster Linie den direkten Austausch und eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Projektteam und der Zielgruppe, also zwischen hörenden und höreingeschränkten Menschen – eine Herausforderung, die einer hörenden Person wie mir die alltäglichen Barrieren im Leben von Gehörlosen allzu schmerzlich bewusst macht.

Herausforderung in der Zusammenarbeit

Anders als bei verschiedenen lautsprachlichen Muttersprachen (z. B. Englisch und Deutsch), erfordert die Kommunikation zwischen Gebärdensprachler:innen und Lautsprachler:innen eine besondere Umstellung im Mindset und der eigenen Perspektive. Als hörende Person fehlt mir grundlegend das Gefühl dafür, was es heißen muss, gehörlos zu sein. Und doch ist eben dieses Gefühl, diese Empathie, die wichtigste Voraussetzung für die Zusammenarbeit untereinander. Grundlegende Angewohnheiten, wie das Anschauen der sprechenden Person, bewirken in einer durch Dolmetscher:innen vermittelten Kommunikation mit Gebärdensprachler:innen plötzlich Ausgrenzungsmomente für Letztere. Denn hörende Personen, darunter ich selbst, tendieren oftmals dazu, nicht die eigentlichen Gesprächspartner:innen, sondern die verbal sprechenden Übersetzer:innen anzuschauen – eine eigentliche Regel der Höflichkeit, die hier jedoch ein unmittelbares Gefühl der Exklusion bei der gebärdenden Person erzeugt.

Auch zustimmende oder ablehnende Einwürfe, wie Hörende sie aus lautsprachlichen Konversationen gewohnt sind („Mhm“, „Klar“, „Hmm“), funktionieren in der Kommunikation mit Gebärdensprachler:innen nicht mehr wirklich. Sie müssen visuell dargestellt werden (z. B. durch Kopfnicken, Schulterzucken o.ä.), während die für Gehörlose gleichermaßen gewohnten visuellen Einwürfe in Gebärdensprache entweder vorab erklärt oder im Laufe der Unterhaltung nachvollzogen werden müssen. Denn obwohl bekannte Gesten, wie „Daumen hoch“, in der Regel zwar auch für Nicht-Gebärdensprachler:innen verständlich sind, ist es der Großteil der restlichen Gebärden meist nicht.

Zusätzlich dazu erschweren Unterbrechungen oder Sprecher:innenwechsel mitten im Satz nicht nur die Arbeit der Dolmetscher:innen, sondern erfolgen meist inhaltlich verspätet, da die Übersetzung stets eine gewisse Latenz aufweist. Aus diesem Grund sind sprechende oder gebärdende Personen in ihren Aussagen nicht selten schon einen Gedanken weiter, wenn die Unterbrechung oder ein Wechsel erfolgt.

Kommunikationsbarrieren bestehen grundsätzlich beidseitig

Grundlegend zeigen diese Schwierigkeiten, dass die heterogene Kommunikation zwischen Gebärdensprachler:innen und Lautsprachler:innen eine andere Dynamik mit sich bringt als der homogene Austausch der beiden Gruppen untereinander. Dabei ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass keine der beiden Seiten als alleiniger Auslöser oder Verantwortungsträger von Kommunikationsproblemen zu betrachten ist. Die Übersetzung durch Dolmetscher:innen und die Berücksichtigung erforderlicher Anpassungsmaßnahmen dient der beidseitigen Kommunikation, sodass sowohl hörende als auch gehörlose Personen darauf angewiesen sind.

Erneut ist es eine Frage des Mindsets und der Perspektive, um die es hier geht. Denn die Behebung der Barrieren ist nicht ausschließlich ein Entgegenkommen oder eine Hilfe gegenüber gehörlosen Gesprächspartner:innen. In dem Moment, in dem ich mir als Hörende:r bewusst mache, dass die Barrieren auch meine Kommunikation blockieren und auch ich selbst auf Maßnahmen zur Behebung dieser Barrieren angewiesen bin – erst dann bewegen wir uns insgesamt ein Stück weiter in Richtung Barrierefreiheit.

Fazit: Verantwortungen und Handlungsmöglichkeiten

Für die erfolgreiche Zusammenarbeit ist es essentiell, dass Hörende ein bislang meist fehlendes Bewusstsein für die Situation der Gehörlosen-Community entwickeln. Dem können wir uns nähern, indem wir uns offen über die eigenen Bedürfnisse in der gemeinsamen Kommunikation austauschen und dabei ehrlich auf Schwierigkeiten oder Ausgrenzungsmomente hinweisen.

Auch wenn dies mühselig und anstrengend wirkt, sollte der Austausch wiederholt und bewusst gesucht werden. Nur so können wir alle unsere Verhaltensweisen, Überlegungen und Erfahrungen reflektieren und daraus gemeinsam Kommunikationsregeln oder anderweitige Lösungsansätze entwickeln.

Und obwohl die Barrieren beidseitig bestehen, habe ich als hörende Person hier den größeren Handlungsspielraum. Indem ich mich mit Gebärdensprache und der dahinterstehenden Community, ihren Mitgliedern und deren Kultur auseinandersetze und gegebenenfalls sogar ein paar erste Gebärden lerne, stärke ich mein Bewusstsein für die Gesamtsituation sowie für die Bedürfnisse und Erwartungen von Gebärdensprachler:innen.

Dies ist der grundlegende Unterschied, der das meiste Potential für Verbesserung und Annäherung verspricht: Hörende Personen können sich mit Gebärdensprache beschäftigen und sie im Optimalfall sogar erlernen – gehörlose Personen haben diese Möglichkeiten im Hinblick auf Lautsprache nicht.